Inland

Ganztag für Grundschulkinder: „Wir wollen nicht nur Aufbewahrung“

2025 soll jedes Grundschulkind Anspruch auf eine Ganztagsbetreuung haben. Die Regierung will das Gesetz jetzt im Eilverfahren durchbringen. Womöglich zu schnell, warnt der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Wolfgang Stadler und wünscht sich Qualität vor Tempo.
von Vera Rosigkeit · 4. September 2020
Die Awo fordert für den Anspruch auf Ganztagsbetreuung klare pädagogische Konzepte.
Die Awo fordert für den Anspruch auf Ganztagsbetreuung klare pädagogische Konzepte.

Die Bundesregierung plant einen Rechtsanspruch für Grundschulkinder ab 2025. Geht Ihnen das zu schnell?

Den Rechtsanspruch brauchen wir und die AWO freut sich, dass die Bundesregierung dieses wichtige Vorhaben anstrebt. Allerdings wurde in den letzten Jahren viel Zeit verschenkt, in der über die Ausgestaltung des Ganztagsanspruchs hätte geredet werden können.

Was uns zu schnell geht, ist das eingeleitete Eilverfahren über die Sommerpause, da wir befürchten, dass jetzt nur die groben Eckpunkte des Gesetzes festgelegt werden und Qualitätsfragen außen vor bleiben. Es braucht zwar insgesamt mehr Plätze, das DJI geht von über eine Millionen neuer Plätze aus. Aber wir wollen nicht nur eine „Aufbewahrung“ der Kinder, sondern qualitativ hochwertige Betreuungsangebote.

Der Erziehungswissenschaftler Thomas Rauschenbach fordert vor allem pädagogische Konzepte und Qualitätsstandards. Mangelt es daran?

Das ist unterschiedlich zu beantworten. Seit der PISA-Studie sind viele Veränderungen im Bildungssystem einhergegangen, auch das Ganztagsschulsystem wurde stark ausgebaut. Doch Ausbau hat erstmal nichts mit Qualität zu tun. Pädagogische Konzepte für Ganztagsschulen gibt es, häufig liegt das Problem aber in der Umsetzung.

Die tatsächlichen Qualitätsstandards fehlen, also zum Beispiel Aussagen zum Personal, zur Anzahl des Personals, zu Beteiligungsverfahren, zur Ausgestaltung von Räumen.

Und Ganztag ist nicht nur Schule. Dabei kommen die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe ins Spiel. Hier gibt es bereits Standards, zum Beispiel das Fachkräftegebot, welches als Vorbild gesehen werden könnte. So arbeiten in Horten zu einem sehr großen Anteil ausgebildete Erzieher*innen. In Schulen ist von Lehrer*innen bis zu ehrenamtlichen Kräften alles dabei. Verstehen Sie mich nicht falsch, ein multiprofessionelles Team kann gut funktionieren, aber hier braucht es ein darauf ausgearbeitetes Konzept. Und das liegt häufig nicht vor.

Natürlich sind nicht alle Horte gut, und nicht alle Ganztagsschulen schlecht – es braucht daher ein schlüssiges Gesamtkonzept mit einem geteilten Bildungsverständnis und einem kooperativen Miteinander.

Für die AWO steht Chancengleichheit im Mittelpunkt der Forderung. Was bedeutet das in der Praxis?

Wir finden, dass gute Bildungs- und Betreuungsangebote vorhanden sein müssen, damit ein mehr an Chancengerechtigkeit entstehen kann. Es kann nicht sein, dass es davon abhängt, ob man überhaupt einen Ganztagsplatz bekommt oder das die Angebote ganz unterschiedliche Qualitäten haben, nur weil man in der falschen Region lebt. Ganztagsbetreuung ist ein wichtiger Aspekt in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dazu sollen Kindern altersangemessene, vielfältige und entwicklungsförderliche Angebote gemacht werden. Und diese Angebote sollen allen Kindern zu Gute kommen. Ein praktisches Beispiel ist das Mittagessen. Wenn man den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung folgt, dann kostet das was. Hier zeigt sich auch die Verbindung zur Chancengerechtigkeit, denn was bislang fast gar nicht diskutiert wurde, ist die Eigenbeteiligung der Eltern an Ganztagsangeboten.

Solche Themen müssen berücksichtigt werden. Gerade die Phase des Corona-Lockdowns hat gezeigt, dass die Schere der Bildungsungleichheit noch deutlicher auseinandergegangen ist. Gute Ganztagsangebote sind ein wichtiges Element, um den Kindern Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Gerade im Hinblick auf die Unterstützung und Förderung von armutsbelasteten Kindern ist das enorm wichtig.

Sollte die Teilnahme am Ganztag verpflichtend sein?

Nein, niemand sollte dazu verpflichtet werden, ein solches Bildungs- und Betreuungsangebot anzunehmen. Das entspricht auch nicht den Wünschen der Eltern. Die meisten Familien wollen eher flexible Angebote, die sie wählen können, je nachdem welche Bedürfnisse ihr Kind hat. Auch sind die Lebenslagen der Familien sehr unterschiedlich, das gilt es anzuerkennen. Wenn Eltern ihr Kind in die Ganztagsbetreuung geben, haben sie in der Regel gute Gründe hierfür: zum Beispiel die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Förderung der sozialen Kompetenzen der Kinder oder Ähnliches. Es muss den Eltern freigestellt werden, diese Angebote nicht in Anspruch zu nehmen, wenn sie eine andere Betreuungsform als passender für ihr Kind ansehen.

Wer ist an dem verkürzten Beratungs- und Beteiligungsverfahren beteiligt?

Aktuell arbeitet ja eine Bund-Länder-AG hierzu und entwickelt ein Eckpunktepapier. Daraufhin wird der Referentenentwurf vorgelegt. Normalerweise setzt dann ein längeres Beratungs- und Beteiligungsverfahren ein, sodass z. B. wir Wohlfahrtsverbände auch Stellungnahme zum Entwurf beziehen können und Anpassungen vorgenommen werden können. Wir denken, dass das Verfahren beim Rechtsanspruch deutlich verkürzt stattfinden wird. Schon alleine deshalb, da die zusätzlichen Mittel aus dem Konjunkturpaket nur fließen können, wenn das Gesetz zum Rechtsanspruch in Kraft tritt. Es besteht äußerst hoher politischer Druck. Diese Schnelligkeit macht uns Sorgen, zumal bislang wenig Bereitschaft signalisiert wurde, dass auch Qualitätsaspekte in dem Gesetzesentwurf einbezogen werden sollen. Hier wollen sich vor allem die Länder nicht auf etwas festlegen lassen.

Keiner möchte, dass das Gesetzesvorhaben scheitert – viel zu lange warten wir schon darauf. Wir warnen aber davor, jetzt auf Teufel-komm-raus ein Gesetz zu stricken, welches zentrale Fragen nicht beantwortet. Wir sind daher gespannt, was aus den Debatten in der Bund-Länder-AG hervorgehen wird. Wir hoffen sehr, dass die Länder Einsehen haben und feststellen, dass eine gute Qualität für Ganztagsangebote immens wichtig ist, auch wenn das Geld kosten wird. Momentan sieht es zwar nicht danach aus, aber wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass  Standards zu Qualitätsverbesserungen aufgenommen werden, z. B. was die baulichen Standards der Bildungseinrichtungen betrifft. Denn kindgerechte Räume sind eine Grundvoraussetzung für das Wohlbefinden der Kinder.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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