Inland

Fünf Perspektiven: Wie SPD-Abgeordnete ein Jahr Zeitenwende bewerten

Der Überfall Russlands auf die Ukraine markiere „eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Jahr vor dem Bundestag. Wir haben bei SPD-Abgeordneten nachgefragt, was die Zeitenwende für sie bedeut
von Kai Doering · 27. Februar 2023
Zeitenwende, auch für den Bundestag: Vor einem Jahr begann Russlands Krieg in der Ukraine.
Zeitenwende, auch für den Bundestag: Vor einem Jahr begann Russlands Krieg in der Ukraine.

Der 27. Februar 2022 war ein Sonntag. Während sich auf der „Straße des 17. Juni“ in Berlin Zehntausende Menschen versammelten, um gegen den drei Tage zuvor begonnenen Überfall Russlands auf die Ukraine zu demonstrieren, trafen sich einige hundert Meter entfernt die Abgeordneten des Bundestags zu einer Sondersitzung. Der Überfall auf die Ukraine am „24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinentes“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung.

Wie macht sich diese Zeitenwende ein Jahr danach bemerkbar? Wie haben die Abgeordneten die vergangenen zwölf Monate erlebt? Der „vorwärts“ hat bei einigen nachgefragt.

 

Johannes Arlt, Mitglied im Verteidigungsausschuss

„Um resilienter zu werden, muss sich auch die Bevölkerung anpassen.“

Für Johannes Arlt war das vergangene Jahr der Beginn eines „Bewusstseinswerdungsprozesses“. Dass Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen würde, hatte der 38-jährige SPD-Bundestagsabgeordnete zwar nicht unbedingt geahnt. Wirklich überrascht hat es ihn aber auch nicht. „Russland hat sich in den vergangenen Jahren verändert und Deutschland hat seine Politik nicht schnell genug angepasst“, sagt Arlt.

Er ist deshalb froh, dass Sicherheitspolitik in den vergangenen Monaten „in den Fokus gerückt“ ist. „Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass Deutschland endlich mehr in die eigene Sicherheit investiert“, sagt Arlt rückblickend. Bevor er im September 2021 in den Bundestag einzog, war Johannes Arlt 18 Jahre lang bei der Bundeswehr, nahm an sieben Auslandseinsätzen teil, u.a. in Afghanistan und Mali. Dass der Bundestag die Bundeswehr im vergangenen Jahr mit 100 Milliarden Euro zusätzlich ausstattete, begrüßt Johannes Arlt daher ausdrücklich. „Damit allein ist es aber nicht getan.“

Die Umsetzung der „Zeitenwende“ bedeute auch „dysfunktionale Prozesse“ innerhalb der Bundeswehr und des Verteidigungsministeriums zu ändern. Zudem müssten deutlich mehr Rüstungsgüter zur Ausstattung der Armee produziert werden. Und auch für die Bevölkerung bedeutet die Zeitenwende aus Sicht von Johannes Arlt große Veränderungen. In Schweden etwa sei nach der Annexion der Krim 2014 die Wehrpflicht reaktiviert worden. Dort seien bereits vor Jahren Diskussionen geführt worden, die Deutschland noch bevorstünden, ist Johannes Arlt sicher. Eine Wiederbelebung der Wehrpflicht hält er hierzulande zwar nicht für sinnvoll, plädiert aber für einen gesellschaftlichen Pflichtdienst. „Um resilienter zu werden, muss sich auch die Bevölkerung anpassen“, ist Arlt überzeugt.

 

Nadja Sthamer, Mitglied im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe

„Wenn wir die Zeitenwende ernst nehmen, müssen wir auch auf die nachhaltigen Sicherheitsbereiche Wert legen.“

Kurz bevor Nadja Sthamer im Sommer vergangenen Jahres als eine von zehn SPD-Abgeordneten gegen das Sondervermögen für die Bundeswehr stimmte, kämpften zwei Seelen in ihrer Brust. Auf der einen Seite wollte die 32-jährige Bundestagsabgeordnete, dass die deutschen Soldat*innen bestmöglich ausgerüstet sind. Gleichzeitig hatte sie die Sorge, dass es Kürzungen im Entwicklungsetat geben könnte. Seit ihrem Einzug in den Bundestag 2021 ist Sthamer Mitglied in den Ausschüssen für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. „Das war eine hohe Drucksituation“, erinnert sich die Abgeordnete.

„Wenn wir den Militäretat stärken, aber im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder um eine ausreichende Finanzierung kämpfen müssen, ist das ein Ungleichgewicht“, findet Sthamer. Sie ist überzeugt: „Wenn wir die Zeitenwende ernst nehmen, müssen wir auch auf die nachhaltigen Sicherheitsbereiche Wert legen.“ Und dazu gehöre eben die Entwicklungszusammenarbeit. Inzwischen habe es hier aber eine Veränderung gegeben. „Olaf Scholz nennt die Entwicklungszusammenarbeit inzwischen immer mit“, hat Nadja Sthamer beobachtet.

Dabei habe Deutschland gerade im humanitären Bereich von Anfang an große Hilfe in der Ukraine geleistet. „Das hat in der medialen Berichterstattung aber viel zu wenig stattgefunden“, findet die Abgeordnete. Umso wichtiger sei, dass die Entwicklungszusammenarbeit im Papier der SPD-Kommission Internationale Politik einen wichtigen Platz einnehme. „Wenn wir für Frieden eintreten wollen, müssen wir schauen, mit welchen Partnern wir zusammenarbeiten können – und das auch immer wieder ehrlich überprüfen.“

 

Ralf Stegner, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss

„Wir dürfen die Pazifisten nicht diffamieren.“

Ralf Stegner hat sich einiges anhören müssen in den vergangenen Monaten. Er sei ein Putin-Versteher, hieß es. Andere warfen ihm vor, die Ukraine opfern zu wollen. „Teilweise wurde ich sogar in die Nähe der AfD gerückt“, sagt Stegner, der seit der Bundestagswahl 2021 für die SPD im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags sitzt. Seit Russland am 24. Februar vergangenen Jahres die Ukraine überfiel, ist auch für Stegner vieles anders. Dass er mal für 100 zusätzliche Milliarden für die Bundeswehr stimmen würde, hätte sich der Parteilinke noch vor kurzem sicher nicht träumen lassen.

„Das Sondervermögen war nötig“, ist Stegner überzeugt. Die „Zeitenwende“ hat ihn in manchen Bereichen zum Umdenken gebracht. In einem jedoch bleibt der 63-Jährige standhaft: „Diplomatie muss immer eine Rolle spielen!“ Im Herbst hat er ein Thesenpapier veröffentlicht. „Vorrang für Diplomatie, keine Militarisierung der Außenpolitik“ lautet der Titel. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Beirren lässt sich Ralf Stegner davon nicht. „Wir streiten nicht über Russlands völkerrechtswidrige Rolle in diesem Krieg, sondern müssen neben der militärischen Unterstützung der Ukraine auch über Verhandlungs- und Friedensoptionen reden, die eine Vielzahl an Menschenleben retten könnten“, findet er und: „Wir dürfen die Pazifisten nicht diffamieren“, auch wenn er sich selbst nicht dazu zählt.

„Natürlich müssen wir der Ukraine helfen, aber die Verengung auf die militärische Frage ist falsch“, ist Stegner überzeugt. Er sei deshalb auch überrascht über den Wandel der Grünen, die immer neue Waffenlieferungen forderten. „Wenn wir der reinen Aufrüstungslogik folgen, könnten am Ende die Mittel fehlen, um die eigentlichen Probleme der Welt zu lösen“, fürchtet er, den Klimawandel etwa oder globale Armut. Der SPD, die gerade ihren außenpolitischen Kurs neu bestimmt, rät Stegner deshalb: „Wir müssen eine internationale Partei bleiben und uns eine Diskussionsvielfalt erhalten.“

 

Michael Müller, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss

„Neben der militärischen Unterstützung der Ukraine, sollten wir über Friedensverhandlungen nachdenken.“

Mehr Diplomatie wagen! So formulierte es vor kurzem der langjährige SPD-Abgeordnete Lothar Binding im Interview mit dem „vorwärts“. Es sei an der Zeit, im Ukraine-Krieg stärker auf diplomatische Anstrengungen zu setzen. „Davon rede ich seit Monaten“, sagt SPD-Außenexperte Michael Müller. „Nur die Fokussierung auf militärische Mittel ist riskant, wir müssen die Diplomatie immer mitdenken“, fordert er. Die derzeitige Rolle des Außenministeriums greife ihm zu kurz: „Gerade von dieser Seite muss alles unternommen werden, um weitere Gesprächskanäle auszuloten“, fordert Müller.

Diplomatie ist für ihn auch in der von SPD-Chef Lars Klingbeil ausgerufenen neuen Führungsrolle Deutschlands ein wichtiger Punkt: „Den Ansatz von ihm finde ich richtig.“ Zugleich betont Michael Müller: „Wir dürfen diese Rolle aber nicht auf Waffen und das Militär reduzieren, sondern Deutschland sollte auch in humanitärer und diplomatischer Hinsicht führen.“ Daher gefalle ihm der Ansatz des Philosophen Jürgen Habermas. Dieser warb vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ auch für Friedensverhandlungen. „Das eine schließt das andere nicht aus: Neben der militärischen Unterstützung der Ukraine sollten wir über Friedensverhandlungen nachdenken“, sagt Michael Müller. Dabei dürfe man jedoch nie vergessen, wer der Aggressor ist – und das sei Russland.

Und noch etwas spiele in der Debatte um Waffenlieferungen eine Rolle: Emotionen – und diese gehen für Michal Müller auch mal in eine eher fragwürdige Richtung. Er empfinde es als unangemessen, „wenn Teile der Medien und der Politik jede Argumentation in Richtung Frieden diffamieren und in die Ecke von Putinversteher*innen drängen“.

 

Wolfgang Hellmich, Mitglied im Verteidigungsausschuss

„Wir müssen der Führungsrolle gerecht werden.“

Ähnlich sieht das Wolfgang Hellmich, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag. Mit Blick auf die Forderungen nach Leopard-Kampfpanzern und der damit verbundenen Parole „Free the Leopards“ auf so mancher Demonstration meint er: „Die öffentliche Darstellung von Waffenlieferungen finde ich zu wenig ernsthaft.“ Man rede von tausenden Toten und Verletzten, von zivilen Opfern. „So notwendig Waffenlieferungen sind, man sollte sich immer bewusst sein, dass es dabei um Tod und Sterben geht – ursächlich dafür ist Putin“, sagt Hellmich eindringlich.

Die von Olaf Scholz kurz nach dem russischen Angriff benannte Zeitenwende, zeigt für Wolfgang Hellmich vor allem eines: „Für Europa ist der Krieg ein epochales Ereignis an seiner unmittelbaren Grenze. Der Krieg geht uns alle an.“ Auch er teilt den Ansatz von Lars Klingbeil zur Führungsrolle Deutschlands. „Schon allein wegen der geografischen Lage und der wirtschaftliche Stärke sowie angesichts unserer Geschichte, muss Deutschland in der Weiterentwicklung Europas eine führende Rolle einnehmen“. Dabei gehe Führung auch immer Hand in Hand mit Verantwortung. „Wir müssen der Führungsrolle gerecht werden.“

Für Hellmich umfasst sie auch diplomatischen Bemühungen. „Wir müssen alle Hebel nutzen, um uns in Richtung Frieden zu bewegen“, erklärt der Verteidigungspolitiker und fügt hinzu: „Diplomatie ist gut, nur momentan sitzt auf der russischen Seite niemand, der verhandeln möchte.“ Er nehme auch aktuell keine Bereitschaft vonseiten Russlands wahr, an Friedensgesprächen teilzunehmen. Einen größeren diplomatischen Erfolg sieht er eher darin, was der Bundeskanzler unternimmt: „Indem Olaf Scholz nach China, Südamerika oder, wie vor kurzem, nach Indien reist, sorgt er dafür, dass der Einfluss von Russland nicht zu groß wird.“ Ebenso baue die von einer überwältigenden Mehrheit der UN-Vollversammlung getragene Resolution gegen den Ukraine-Krieg, „wachsenden Widerstand gegen Russlands Aggression auf“.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare