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Fünf Jahre Mindestlohn: „Zwölf Euro sind die neue Norm"

Im Sommer 2014 wurde der Mindestlohn beschlossen. Seitdem brummt die deutsche Wirtschaft. Fünf Jahre später fordern DGB und SPD eine Anhebung auf 12 Euro. Wieder laufen die gleichen Kräfte Sturm, die schon von fünf Jahren den Untergang der deutschen Wirtschaft prophezeiten.
von Vera Rosigkeit · 27. Juni 2019
Der Mindestlohn bleibt eine Baustelle: Der SPD reicht die bisherige Erföhung nicht aus, sie fordert 12 Euro pro Stunde.
Der Mindestlohn bleibt eine Baustelle: Der SPD reicht die bisherige Erföhung nicht aus, sie fordert 12 Euro pro Stunde.

Er ist eine Erfolgsgeschichte. Mehr als dreieinhalb Millionen Menschen profitieren heute von der Einführung des Mindestlohns, der vor fünf Jahren im Sommer 2014 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde und im Januar 2015 in Kraft trat. Grund genug für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zu einer Mindestlohnkonferenz zu laden.

Mindestlohn als Erfolgsgeschichte

Fünf Jahre nach Einführung gebe es drei Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehr, vor allem Beschäftigte im Osten und Frauen habe er zu mehr Lohn verholfen, sagt Stefan Körzell vom Bundesvorstand des DGB am Mittwoch in Berlin.  Besonders freue ihn, dass die Vielzahl an negativen Prognosen von deutschen Volkswirtschaftlern und Arbeitgebervertretern zu möglichen Auswirkungen eines Mindestlohnes nicht eingetroffen seien. Arbeitgeber prophezeiten damals einen Anstieg der Erwerbslosenzahl von bis zu einer Million, so Körzell.

„Beim Thema Mindestlohn hat die führende Wirtschaftswissenschaft in Deutschland versagt“, bringt es Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI), auf den Punkt. Und dokumentiert anhand von Zitaten, wie stark der Widerstand gegen den Mindestlohn war. Volkswirt Wolfgang Franz zum Beispiel, bis 2013 Chef des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“), erklärte damals: „Über kaum einen anderen Sachverhalt besteht in der Volkswirtschaftslehre so viel Einigkeit wie über die schädlichen Wirkungen von Mindestlöhnen.“

„Zwölf Euro sind die neue Norm"

Heute sei klar: Der Mindestlohn wirke als Wachstumsverstärker, sagt Schulten. Trotzdem kämen die alten Argumente aktuell wieder auf den Tisch. Gemeinsam kämpfen Arbeitgeber und Union gegen die Pläne von DGB und SPD, die ein Anheben des Mindestlohns von derzeit 9,19 Euro auf 12 Euro fordern. Schulten dazu: „Zwölf Euro sind die neue Norm.“ Laut Umfragen sind 80 Prozent der Deutschen dafür.

Tatsächlich ist die Debatte um die Höhe des Mindestlohns, der 2020 auf 9,35 Euro steigen wird, neu entbrannt. Denn ein Ziel hat er bislang nicht erreicht: Er ist nicht existenzsichernd und reicht auch nach 45 Jahren Beschäftigung nicht zu einer Rente oberhalb der Grundsicherung. Das ist besonders für Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ein Problem, denn er möchte mit einer Grundrente jenen Beschäftigten eine auskömmliche Rente ermöglichen, die zwar viel in ihrem Leben gearbeitet haben, aufgrund einer Tätigkeit im Niedriglohnbereich aber von Armut im Alter bedroht sind. Diejenigen, die dagegen kämpften, „sollten wissen, dass wir dieses Problem lösen müssen“, sagt er in Richtung Steffen Kampeter, Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

OECD lobt Sozialpartnerschaft

Arbeitgeberverband und auch der Koalitionspartner CDU/CSU machen derzeit gegen das Konzept einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung mobil. Und so sieht sich Kampeter beim Thema Armutsbekämpfung nicht in der Verantwortung. Die Vermeidung von Armut sei nicht Ziel des Mindestlohns, erklärt er. Und auch Tarifverhandlungen seien nicht dafür da, Armut zu bekämpfen. Vielmehr spiegelten sie die Produktivität wider, sagt der CDU-Politiker.  

Für Hubertus Heil sieht verantwortungsvolle Politik anders aus: Lohnentwicklung habe sehr viel damit zu tun, Armut zu verhindern, betont Heil. Und kritisiert, dass sich der BDA derzeit vehement gegen eine Tarifbindung in der Pflege wehre. „Die OECD lobt uns für die Sozialpartnerschaft und wir schauen zu, wie sie schwindet. Damit habe ich ein Problem.“

Arbeitszeiterfassung als Problem

Doch es gibt noch ein weiteres Problem, das derzeit von Arbeitgebern und Unionspolitkern blockiert wird. Das seiner praktischen Durchsetzung. „Schätzungsweise 1,8 bis 2 Millionen Beschäftigte werden um den gesetzlichen Mindestlohn betrogen“, erklärt Körzell. Oft müssten sie mehr Stunden arbeiten als sie bezahlt bekämen. Eine einfache Systematik zur Arbeitszeiterfassung würde von Arbeitgebern und Unionspolitikern als großes Problem gesehen, kritisiert er. Das ärgert auch Andrea Kocsis. Dass im Zeitalter der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz eine einfache Systematik, um Arbeitszeit zu erfassen, als großes Problem gesehen wird, stößt bei der Vize-Chefin der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) auf Unverständnis.

Für Heil ist die Umsetzung des im Mai vom Europäischen Gerichtshofs entschiedenen Urteils, wonach Arbeitszeit künftig in ganz Europa verlässlich dokumentiert werden muss, eine „Riesenaufgabe“. Sie muss gemeinsam mit Sozialpartnern diskutiert werden, erklärt er und lässt keinen Zweifel daran, dass Recht und Gesetz durchgesetzt werden müssten.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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