Am Freitag hat die neue Mehrheit von SPD, Grünen und Linken im Bundesrat die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro durchgesetzt. In den europäischen Nachbarländern wie Frankreich hat man damit schon lange gute Erfahrungen gemacht.
In Krisenzeiten erhält der allgemein garantierte gesetzliche Mindestlohn in Frankreich eine herausragende sozialpolitische Bedeutung. Viele Franzosen finden sich in diesem Rahmen gerecht bezahlt. Frankreich hat keinen mit Deutschland vergleichbaren Niedriglohnsektor. Derzeit ist der Mindestlohn in Frankreich für etwa 3,4 Millionen Franzosen auf monatlich 1.430,22 Euro, 9 Euro 43 pro Stunde, festgelegt. In Frankreich gilt noch weitgehend die 35-Stunden-Woche. Die Grande Nation darf sich mit Recht als Vorreiter beim Thema Mindestlohn ausgeben.
"Akzeptabel", so die Gewerkschaften, war für sie die Erhöhung wenige Monate nach dem Wahlsieg von Francois Hollande (58) ausgefallen, plus zwei Prozent. Im Januar gab es eine weitere Erhöhung, noch einmal 0,3 Prozent. "
"Ein wenig knickrig“, meckerten dann allerdings die großen Massengewerkschaften, die sich mehr erhofft hatten. Aber immerhin: Der im Mai zum neuen Staatspräsidenten gewählte Sozialist hat sein Wahlversprechen gehalten. Bei weitem aber nicht vergleichbar mit der Steigerung des Mindestlohnes um 21 Prozent zwischen 2001 und 2007. Die Absicht der damaligen Linksregierung unter Francois Mitterrand war, nach der Einführung der 35-Stunden-Woche sechs Einkommensniveaus in mehreren Etappen anzugleichen. Seit 2005 gibt es einen einheitlichen Mindestlohn.
3,4 Millionen Smicards
Der Mindestlohn hat im französischen Wirtschaftsleben seinen festen Platz. Industrie und Handel müssen ihn zahlen. Niemand – mit Ausnahme der Auszubildenden – darf in Frankreich unter diesem Lohnlevel beschäftigt werden. Der Mindestlohn heißt SMIC, "Salaire Minimum Interprofessionel de Croissance“. Mindestlohnempfänger werden in Frankreich, wo sprachliche Abkürzungen, zuweilen auch Schlagwörter, gern verwendet werden – smicards genannt. Sie entsprechen 14,5 Prozent der Lohn- und Gehaltsempfänger in Frankreich. Arbeitsminister aller politischen Schattierungen weisen gern auf die soziale Errungenschaft hin, die über 60 Jahre auf dem Buckel hat.
Vielleicht darf es als weitblickend bezeichnet werden, wenn die erste Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg schon im Oktober 1946 in der neuen Verfassung festhielt, dass die Nation jedem einzelnen und der Familie die zu ihrem Wohlstand notwendigen Voraussetzungen gewährleistet und ihnen den Schutz der Gesundheit, materielle Sicherheit, Erholung und Freizeit garantiert. Für Millionen von Arbeitnehmern bestand die materielle Sicherheit in einem gesetzlich garantierten Mindestlohn, dessen Gesetz in der Nationalversammlung am 11. Februar 1950 verabschiedet worden war.
Ausnahme beim Mindestlohn
Indessen gibt es beim SMIC Ausnahmen für bestimmte Gruppen, zum Beispiel für Jugendliche unter 18 Jahren mit weniger als sechs Monaten Berufserfahrung, weiter für junge Menschen, die vor der Berufsausbildung ein Praktikum absolvierten sowie für Behinderte. Grundsätzlich wird eine Erhöhung immer zum Jahresanfang festgelegt. Bleibt noch ein Junktim festzuhalten: Die Erhöhung des SMIC darf nicht niedriger sein als die Hälfte der Erhöhung der Kaufkraft der durchschnittlichen Stundenlöhne.
Einige europäische Nachbarn setzten ebenfalls eine Untergrenze beim Lohn. Belgien hält, gesetzlich wie in Frankreich geregelt, einen Mindestlohn von 8,75 Euro, die Niederlande von 8,88 Euro und Luxembourg von 10,41 Euro für angemessen. In Großbritannien führte Labour-Premier Tony Blair 1999 die gesetzliche Richtlinie mit 7,39 Euro ein. Der spanische Mindestlohn wurde 1980 mit 3,42 Euro eingeführt, heute 4,25 Euro, Portugal legte sich auf 2,99 Euro fest.
ist Auslandskorrespondent in Frankreich für verschiedene Tageszeitungen und Autor mehrerer politischer Bücher, u. a. „Willy Brandt – ein politisches Porträt“ (1969).