Inland

Frank-Walter Steinmeier trifft Jürgen Habermas

von Klaus-Jürgen Scherer · 26. November 2007
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Eingangs erinnerte Wolfgang Thierse, Vorsitzender des Kulturforums, daran, wie sehr sich im neuen Hamburger SPD-Grundsatzprogramm, etwa wo es um das soziale Europa als Antwort auf die Globalisierung oder um die "Weltinnenpolitik" geht, Habermas'sche Gedanken wiederfinden. Der 78jährige Denker schätzte in seinem überraschend politischen Vortrag die Zukunft Europas eher skeptisch ein und mahnte an, die Europäische Integration müsse von einem "Elitenprojekt" zu einem bürgernahen Politikmodell werden. Zudem dürfe die zentrale Frage der künftigen finalen Gestalt Europas keineswegs ausgeklammert werden. Er unterstrich, wie sehr Europa gebraucht wird, als Antwort auf die - durch asymetrische Machtverteilung, durch "externe Kosten" einer alternativlos gewordenen kapitalistischen Weltwirtschaft und durch die globale Verknappung der Energiereserven - "instabile Weltlage ". "Im Rahmen der supranationalen Weltorganisation, also als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, müssten sich die Nationalstaaten auf transnationaler Ebene zu einer überschaubaren Anzahl solcher global players zusammenschließen - neben den geborenen Großmächten eben Regimes von der Art einer außenpolitisch handlungsfähigen EU." Seine Empfehlung: eine "Politik der abgestuften Integration", durchsetzbar durch ein europaweites Referendum, denn "Hemmschuh sind die Regierungen - nicht die Bevölkerung."

Einigkeit bestand in der Bedeutung des weltweit beachteten europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells, das wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit verbindet. Übereinstimmung auch, dass es die entscheidende europäischen Frage unserer Zeit ist, ob die EU-Mitgliedsstaaten sich zusammen behaupten können oder einzeln ihren Einfluss und ihr Gewicht verlieren würden.

Doch der aus normativer Perspektive zugespitzten Skepsis musste Frank-Walter Steinmeier in seiner Antwort widersprechen. Das Projekt Europa müsse weitergehen, auch über den wichtigen Schritt des neuen EU-Vertrages von Lissabon hinaus. Was die europäischen Regierungen zustande gebracht haben, sei "ein großer Fortschritt" und biete die Voraussetzung dafür, "eine transparentere Politik, mit mehr Mitspracherechten für die Menschen, und damit auch eine soziale Politik" zu machen. Steinmeier skizzierte sieben entscheidende Zukunftsaufgaben, um die sich Europäische Politik jetzt zu kümmern habe: Energie- und Klimapolitik, Neuordnung der EU-Finanzen, soziale Standards, Friedens- und Entspannungspolitik, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Neuansatz der Beziehungen zu Amerika, gemeinsame Verantwortung mit Russland.

In dem von Prof. Julian Nida-Rümelin moderierten Dialog blieb es zwar bei der Differenz zwischen dem vor Gefahren wie "Devolution und Rückbildung" warnenden Kritiker und dem gestaltenden Politiker, der die - gerade sozialdemokratisch erkämpften - Integrationsschritte in die richtige Richtung unterstreicht. Doch man war aus den unterschiedlichen Rollen heraus auf Annäherungskurs: Schließlich konnte sich auch Habermas vorstellen, die "laudatio" einer Ehrendoktorwürde für Steinmeiers große Leistung der deutschen Ratspräsidentschaft zu halten. Und die Gewichtungsfrage, ob eher im Regierungshandeln oder im Bevölkerungsbewusstsein das größere Problem liege, fand ihre dialektische Auflösung darin, dass es die nach wie vor fast völlige fehlende europäische Öffentlichkeit sei, die kulturelles Zusammenwachsen behindert. Dabei, betonen beide, geht es eben nicht ohne eine wirkliche europäische Öffentlichkeit als Gegengewicht zur Staatlichkeit. Steinmeier formulierte das gemeinsame Fazit, einen anderen Aufklärer, den Politikwissenschaftler Oskar Negt, leicht verfremdet zitierend: Was in Europa in Gang gesetzt werden muss, ist ein Prozess, den man "Öffentlichkeit kraft Erfahrung" nennen könnte.

Autor*in
Klaus-Jürgen Scherer

ist Redakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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