Inland

Fluch oder Segen?

von Anke Schoen · 30. März 2012

Was früher nur Hochbegabten vorbehalten war, gehört nun fast schon zum Alltag an deutschen Universitäten. Der Wegfall der Wehrpflicht und das Abitur nach acht Jahren spülen immer mehr Minderjährige an die Hochschulen. Welche Konsequenzen hat dies für die Bildungskultur? Eine Bestandsaufnahme.

Das Abitur, die bestandene Reifeprüfung, ist so etwas wie die Eintrittskarte in die Eigenständigkeit. Es markiert einen radikalen Schnitt im Leben, möglicherweise den radikalsten. Das Dokument befähigt seinen Inhaber zur Studienaufnahme. Es lädt dazu ein, etwas Neues kennenzulernen und den Horizont zu erweitern: in einer fremden Stadt zu leben, in die erste eigenen Wohnung zu ziehen, auf die gut gemeinten Ratschläge der Eltern pfeifen. Erwachsen werden.

Wer bereits mit 5 Jahren eingeschult wird und nach acht Jahren sein Abitur in der Tasche hat, sitzt mit 17 im Hörsaal. Für 17-Jährige ist der Start in den neuen Lebensabschnitt gleichsam ein Start mit angezogener Handbremse. Denn schon bei der Einschreibung lauern die ersten Probleme. Das Studium kann nur mit der Erlaubnis der Eltern begonnen werden. Für die eigene Wohnung benötigen die unter 18-Jährigen die Unterschrift der Erziehungsberechtigten. Gleiches gilt für Bibliotheksausweise oder Chipkarten.

Keine speziellen Elternabende

Und auch die Eltern wollen noch nicht loslassen. „Es fällt auf, dass mehr Eltern ihre Kinder zur Einschreibung begleiten“, erklärt Pressesprecherin Ulrike Bohnsack von der Universität Duisburg-Essen. Die Universität sieht die Angelegenheit eher gelassen. „Spezielle Elternabende sind bisher noch nicht geplant.“ Das kann sich aber rasch ändern: „Falls es gewünscht wird, wird die Studienberatung auch Infoveranstaltungen für minderjährige Studierende und ihre Eltern anbieten.“ Bisher gäbe es ein umfangreiches Beratungsangebot, an denen auch Eltern teilnehmen könnten.

Noch vor einigen Jahren waren minderjährige Studierende eher die Ausnahme als die Regel. Vor zehn Jahren gab es laut Statistischem Bundesamt in der Bundesrepublik 233 Studierende unter 18 Jahren, vergangenes Jahr waren es bereits 658. Im Gegensatz zu Bayern und Niedersachsen, strömt in Nordrhein-Westfalen erst nächstes Jahr der erste G-8 Jahrgang an die Universitäten. Zum Wintersemester 2011/12 haben sich rund 6500 Studienanfänger an der Universität Duisburg-Essen eingeschrieben. Davon sind lediglich siebzehn minderjährig. „Natürlich wird die Zahl der Minderjährigen zunehmen“, prophezeit Ulrike Bohnsack.

Ökonomie der Bildung

Im Vergleich zu den Magister oder Diplom-Studiengängen seien Bachelor und Master ohnehin verschulter. „Die Betreuung ist intensiver geworden“, so die Pressesprecherin. Dies könne den Einstieg natürlich erleichtern. „Studiengänge sind heute stärker strukturiert. Bachelor und Master erfordern eine stärkere Reglementierung“, stellt Michael Schulte, Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW fest. Deshalb haben Studierende heute kaum noch Wahlmöglichkeiten. Das Bildungssystem unterliege einer ökonomischen Betrachtungsweise.

„Die Absolventen sollen dem Arbeitsmarkt immer früher zur Verfügung stehen“, so der Gewerkschafter. Eine vernünftige und intensive Ausbildung erfordere Zeit. „Am humboldtschen Bildungsideal orientiert sich heute niemand mehr“, stellt er fest. Es ginge viel mehr um Verwertungsmaßstäbe als an bildungsreformerischen Ideen. Er selbst hat in Münster Germanistik, Geschichte und Sozialwissenschaft studiert. Er begann sein Studium mit 18 Jahren. Überfordert gefühlt habe er sich nicht. Er warnt davor, 17-jährige Studierende zu unterschätzen.

Fehlende Studienplätze dringenderes Problem

Es sei nicht richtig, den Studierenden mangelnde Reife zu unterstellen, findet auch Pressesprecherin Ulrike Bohnsack. „Die Dozenten sind eher beeindruckt, was besonders Schülerstudierende alles leisten“, erklärt sie. „Die fehlenden Studienplätze sind momentan ein dringenderes Problem als minderjährige Studierende“, sagt sie abschließend.

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Anke Schoen

ist freie Journalistin.

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