EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und der Historiker Christopher Clarke diskutierten in Aachen über den Ersten Weltkrieg, die Friedensidee der EU und Europas Versprechen für künftige Generationen.
Als die Debatte am Samstag im altehrwürdigen Krönungssaal des Aachener Rathauses schon etwas dauerte, da meldete sich aus dem Publikum eine junge Frau. Sie habe zügig ihr Studium abgeschlossen, das alles an einer britischen Universität, kurzum also, vieles richtig gemacht in dieser sich stets schneller drehenden Welt der stets steigenden Qualifikationen. Aber es finde sich keine Stelle, lautete die Klage. „Was kann die Politik für meine Generation tun?“, wollte die junge Akademikerin von Martin Schulz wissen. Der Präsident des Europäischen Parlaments war gleich bei seinem Thema. „Europa war nach 1945 einmal ein Versprechen: Das Versprechen, dass es der nächsten Generation besser geht. Und dieses Versprechen ist uns in der Euro-Krise abhanden gekommen. Auch deshalb schwindet das Vertrauen in die Europäische Union“, sagte Schulz.
Neben ihm auf dem Podium stand der australische-britische Historiker Christopher Clark und nickte zustimmend. Der Gelehrte aus Oxford hat mit seinem Buch „Die Schlafwandler“ ein fulminantes Werk über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das Versagen einer tapsenden Diplomatie vorgelegt. Clark schreibt aus einem ganz neuen Blickwinkel. Er verlässt die nationale Perspektive und schaut durch eine neue gesamteuropäische Brille auf den verhängnisvollen Weg in die Katastrophe.
Martin Schulz, aufgewachsen in Würselen im Länderdreieck Deutschland, Belgien, Niederlande, hat sich früh für diesen Krieg interessiert, als junger Mann reiste er nach Verdun und Ypern, weil der Erste Weltkrieg „zur Psychatrisierung einer ganzen männlichen Generation“, beigetragen habe, wie Schulz es formulierte. „Zur brutalen Psychatrisierung“, wie Clark ergänzend hinzufügte.
Briten und Franzosen sprechen bis heute vom Großen Krieg, für die Deutschen ist er der Anfang in die Urkatastrophe der NS-Zeit. Und für Europa der traumatische Ausgangspunkt für eine neue Friedensordnung. „Die Europäische Union“, sagte Schulz in, „ist die Antwort der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf die Abgründe der ersten Hälfte.“
Unvollständiges „Beckmann-Trio“
Nach Aachen geladen hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung. Denn die Menschen erwarten von der in die Jahre gekommenen EU neue Antworten. „Europa – Welche Werte tragen und erneuern die Gemeinschaft?“, lautete das Thema der Debatte. Und eigentlich waren nicht nur Christopher Clark und Martin Schulz geladen. Der Dritte im Bunde aber musste passen: Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, musste kurzfristig absagen. Als „Beckmann-Trio“ würden sie nun bezeichnet, erzählte Schulz, seit die drei in der gleichnamigen ARD-Sendung gemeinsam über die Lehren des Ersten Weltkriegs diskutierten. Seither ist der Respekt geblieben, aber so etwas wie Freundschaft entstanden. Man siezt sich, aber man nickt sich auf dem Podium aufmunternd zu. Das ist nicht die schlechteste Voraussetzung, um über Europa zu reden.
Noch dazu an einem Ort wie dem Aachener Krönungssaal, in dem einst das Krönungsmahl des Römischen Kaisers deutscher Nation zelebriert wurde und heute jährlich der europäische Karlspreis verliehen wird. Knapp tausend Menschen waren gekommen. „Das zeigt, wie sehr Europa noch immer bewegt“, sagte Schulz. Und Kurt Beck, der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung erklärte in seiner Begrüßung: „Wir Deutschen wissen, was wir an dieser Friedensidee haben.“
Schulz erinnerte an den Mut der ersten Europäer wie Robert Schuman und Pierre Mendes-France, deren Aufbruch zur deutsch-französischen Versöhnung in ihrer Heimat Frankreich nicht unumstritten gewesen sei. Er erinnerte an den Mut aus der neuen Friedensordnung nach 1945 kein „zweites Versailles“ zu machen. Also kein Diktat von Siegern über Besiegte. „Europa, das ist der Versuch, gleichberechtigte Staaten über Grenzen hinweg mit gemeinsamen Institutionen zu verbinden“, so Schulz.
Der schwierige Kampf um die Herzen
Die Versuchsanordnung begeistert derzeit nicht alle. „Der nachfolgenden Generation fehlt das Bauchgefühl für Europa“, sagte Clark bezogen auf die schwindende Kraft der alten Friedensidee. Von einem „erstmaligen Experiment“, sprach Clark und auch davon, dass es „noch etwas dauern könne“ mit der Vollendung Europas. Wo aber sollte sie dann liegen, die neue Idee der EU, wenn die Jugend das grenzenlose Reisen und den Frieden als selbstverständlich ansieht?
Christopher Clark, der Historiker aus Oxford, ließ nichts von britischer Distanz zur EU erkennen. „Europa muss den Platz im Herzen der Menschen einnehmen“, forderte er und erinnerte daran, dass sich auch der künstliche Nationalstaat im 19. Jahrhundert diesen Platz erstmal hätte erobern müssen. Wie aber lässt sich das Herz der Menschen erobern? Darauf hatte Martin Schulz eine sehr pragmatische Antwort: „Wir verlangen von den Menschen in der Krise enorme Opfer. Warum? Um nach wilden Spekulationen Banken mit Milliarden zu retten. Aber die Kinder sind arbeitslos. Das ist der Vertrauensverlust von Europa.“ Europa weiß also, wie es Herz und Bauch seiner Jugend gewinnen kann.