Inland

Europa ohne die USA: So will Premier Starmer das Schlimmste verhindern

Premierminister Keir Starmer stellt Großbritannien als Brücke zwischen Europa und Trump auf. Kann seine Strategie Europas Sicherheit retten? Illusionen sollte sich niemand machen.

von Michèle Auga · 5. März 2025
Brückenbauer: Premierminister Keir Starmer (m.) am 2. März 2025 beim Europa-Gipfel mit der Ukraine zusammen mit den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (r., Ukraine) und Emmanuel Macron (l., Frankreich)
Meeting of European leaders during a summit on Ukraine at Lancaster House in London From left, French President Emmanuel Macron, Britains Prime Minister Keir Starmer and Ukraines President Volodymyr Zelenskyy attend a meeting of leaders during a summit on Ukraine at Lancaster House in London, Sunday, March 2, 2025 Christophe Ena Pool Bestimage London United Kingdom PUBLICATIONxINxGERxAUTxSUIxONLY Copyright: xChristophexEna/Pool/BestimagexChristophexEna/Pool/Bestimagex

Von Winston Churchill ist die folgende Aussage überliefert: „Das britische Empire ist für mich das A und O. Was für das Empire gut ist, ist auch für mich gut; was für das Empire schlecht ist, ist auch für mich schlecht.“ Es bedarf keiner Küchenpsychologie, um nachzuvollziehen, weshalb Donald Trump ausgerechnet Churchills Büste auf dem Kaminsims des Oval Office platziert hat. Doch während Trump sich mit Symbolik schmückt, ist ihm die special relationship – die in London so oft beschworene herausragende Bedeutung der amerikanisch-britischen Beziehungen – völlig gleichgültig. Großbritannien liegt in Europa, und genau das könnte dem Land zum Verhängnis werden. Sollte es tatsächlich stimmen, dass Trump nur ein Ziel verfolgt – die Spaltung des Kontinents –, dann droht auch Großbritannien in den geopolitischen Strudel seiner Politik zu geraten.

Starmer umgarnte Trump – bis zur Peinlichkeit

Dies muss auch Keir Starmer während seiner Charmeoffensive im Weißen Haus bewusst gewesen sein. Alles andere wäre naiv. Also nutze er all seine Erfahrung als ehemaliger oberster Strafverfolger, eisern-kompromissloser Reformer der Labour Party und mittlerweile geübter Premierminister. Er umgarnte Trump bis an die Grenze der Peinlichkeit, spielte auf der gesamten Klaviatur der historisch engen Beziehungen und besann sich psychologischer Ratschläge im Umgang mit Narzissten: Bleiben Sie bei sich. Nehmen Sie nichts persönlich.

Starmer hat einen Plan und der scheint aufzugehen: Großbritannien soll in der aktuellen Krise zum unverzichtbaren Partner der EU werden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Vereinigte Königreich diese Rolle als Brückenkopf zu einem erratisch agierenden amerikanischen Präsidenten überhaupt nur spielen kann, weil es den Brexit kompromisslos durchgezogen hat. In Brüssel mag man sich ob der guten Stimmung im Oval Office die Augen gerieben haben. Der Brexit als Glück im Unglück. Bis jetzt agierte Starmer im Sinne der Europäer.

Der britische Premier wächst derzeit über sich heraus

Das darauffolgende Fiasko zwischen Selenskyj und Trump und die Ankündigung der Amerikaner, die Militärhilfe an die Ukraine einstellen zu wollen, hätte das Ende dieses Balance-Akts sein können, aber Starmer wächst derzeit über sich heraus. Nachdem er die Verbündeten in London versammelt hatte, um über Europas Sicherheit zu diskutieren, und der französische Präsident ihn gewähren ließ, schickt er nun seinen Verteidigungsminister John Healey in die USA und bleibt damit als einziger in Europa in direktem Kontakt mit einer Administration, die sich wie eine Bande von Schutzgelderpressern gebiert.

Der Gipfel war historisch, weil Europa das erste Mal seit 80 Jahren festhielt, dass europäische Sicherheit auch ohne die USA funktionieren muss. Und während es auf die naive und das Völkerrecht ausblendende Initiative Trumps zurückzuführen ist, dass überhaupt Bewegung in die Frage des Ukraine-Krieges gekommen ist, gibt es erstmals zumindest einen Vorschlag von Seiten der Europäer, der weiter ausgearbeitet werden muss. Nun fällt die Unterstützung für die Ukraine durch die USA weg und die diskutierte einmonatige Waffenruhe „in der Luft, auf dem Meer und bezüglich der Energieinfrastruktur“ muss ohne Trump organisiert werden. Starmer, der oft Unterschätzte, von dem viele nicht wissen, wie erfolgreich er im Nordirland-Konflikt agiert hat, wird jetzt zum Broker zwischen Washington und Brüssel.

Ohne eine „Koalition der Willigen“ aus Europa geht es nicht

Starmer weiß um die prekäre Lage der Ukraine, weshalb er seinen Fokus auf den Schutz des ukrainischen Luftraums legt. Aus diesem Grund hat er weitere 5.000 Luftabwehrraketen für die Ukraine angekündigt. Die Stationierung von Bodentruppen wäre erst ein zweiter Schritt. Der britische Premier will deutlich machen, dass es in erster Linie auf den politischen Willen Russlands ankommt, den Krieg zu beenden, und nicht auf die Ukraine. Auch wenn man beklagen mag, dass der Stellungskrieg am Boden anhalten würde, mit jeder weiteren Drohne, abgefeuert auf ukrainische Krankenhäuser, stünde Russland am Pranger der Weltöffentlichkeit – nicht die Ukraine.

Nach den anhaltenden Zurückweisungen Selenskyjs durch Trump wird deutlich: Ohne eine „Koalition der Willigen“ aus Europa geht es nicht. Und so schwor Starmer, der als blass beschriebene Völkerrechtsanwalt, in einer Art eigenem Churchill-Moment das britische Publikum auf kommende schwere Jahre ein. Subtile historische Bezüge zum Zweiten Weltkrieg und auf seinen Vorgänger Clemens Attlee, in dessen Amtszeit 1949 die Gründung der NATO fiel, bildeten den Rahmen. Mit Verweisen auf russische Angriffe auf die britische Infrastruktur begründete er die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab 2027 – eine Steigerung von 13,4 Milliarden Pfund pro Jahr. 2029 würden die Ausgaben auf drei Prozent erhöht. 

Auf Gedeih und Verderben mit Washington in einem Boot

Die Zweifler, die sich keinen weiteren Balance-Akt zwischen Brüssel und Washington vorstellen können, erinnerte der Premier an die Verflechtungen in der Nukleartechnologie bei U-Booten, an die Geheimdienstallianz Five Eyes und an AUKUS, das trilaterale Militärbündnis, das auch Australien umfasst. Sollte die NATO zerbrechen, säße das Vereinigte Königreich auf Gedeih und Verderben noch immer mit Washington in einem Boot. Als Kollateralschaden verbuchte Starmer dagegen eine nicht unumstrittene Ausgabenkürzung für die Entwicklungszusammenarbeit auf 0,3 Prozent des BIP.

Starmers Politik beruht auf dem Konzept des „Progressiven Realismus“ welches ein Gleichgewicht zwischen idealistischen Zielen und praktischen, erreichbaren Lösungen herstellen will. Es ist dieser Pragmatismus, der Starmer jetzt leitet. Er vermeidet jede durch Angst hervor gerufene Denkblockade. Gerade weil die Lage ohne die US-Militärhilfe für die Ukraine sehr viel schwieriger wird, sucht er nach Alternativen. Die Anzahl der europäischen Langstreckenraketen ist nicht ausreichend, also braucht es mehr. In der Satellitenkommunikation ist das Starlink-System zwar ein Vorteil, aber nicht unverzichtbar. 

USA-Ausfall muss kompensiert werden

Etwa 20 Prozent des eingesetzten leistungsfähigsten Geräts stammt aus den USA, also muss es ersetzt werden. Es ist die aktuelle Lage auf russischer Seite, weniger das Gebaren in Washington, das Starmer in seinen Überlegungen anzutreiben scheint. Während die Ukraine bislang weitgehend in der Defensive blieb, bräuchte Moskau nach Angaben des Institute for the Study of War zwei weitere Jahre, um den Rest der Region Donezk zu erobern. Starmer setzt also auf ein sehr kurzes Zeitfenster, in dem Bewegung in der festgefahrenen Situation möglich scheint. Dieses Zeitfenster hat sich mit Trumps Entscheidungen weiter geschlossen.

Mit dem Wegfall der weiteren 33,2 Milliarden Dollar für die Ukraine, die für den Kauf von amerikanischen Waffen zur Verfügung gestellt werden sollten, müssen die europäischen Beiträge verdoppelt werden, um die aufgerissene Lücke zu schließen. Großbritannien, das fiskalpolitisch gebeutelt ist, ging bereits in Vorleistung und versprach der Ukraine einen Kredit in Höhe von 2,74 Milliarden Euro. Starmer setzt bewusst darauf, dass ein Teil der eingefrorenen russischen Zentralbankguthaben zur Finanzierung verwendet werden könne. Französische Vorbehalte lässt der Jurist nicht gelten. Vor allem aber will er die britische Öffentlichkeit davon überzeugen, dass eine Art Kriegswirtschaft auch das dringend benötigte Wachstum der heimischen Wirtschaft beflügeln könnte. Denn allein mit dem Traum vom Singapur an der Themse, das vom Finanz- und Dienstleistungsmotor London lebt, gewinnt man keinen Krieg.

Streben nach Idealen ohne Illusionen über das Erreichbare

Eine Diskussion um Guns or Butter oder eine Verrechnung der Ukraine-Hilfe mit der Sozialpolitik kommt bislang nicht auf. Der Aufwuchs bei den Militärausgaben soll für britische Arbeitsplätze sorgen. Es ist dieses Ansinnen, dass Starmer in der Gunst des heimischen Publikums in einen Konflikt mit Emmanuel Macron bringt, der dasselbe Interesse für Frankreich hegt und ebenfalls sein Publikum adressiert. Die Kakophonie vor der Außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates am 6. März sollte daher nicht überbewertet werden. Stattdessen sollte ernsthaft überlegt werden, wie die zukünftige Kooperation zwischen Großbritannien und der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA), konkret ausgestaltet werden könnte.

Das von Experten geforderte Sofortprogramm wartet auf seine Umsetzung. Man mag Starmers Lavieren als naiv empfinden, aber er zeigt im Moment, weshalb ein britischer Führungsanspruch in Europa weiterhin gerechtfertigt ist. Wer, wenn nicht Starmer, sollte jetzt einen Transformationsplan für Europas Verteidigung mit Trump verhandeln können? „Progressiver Realismus“, so der britische Außenminister Lammy, „ist das Streben nach Idealen ohne Illusionen über das Erreichbare.“ Dem würde sogar Churchill zustimmen können. Können es die Europäer auch?

Dieser Text erschien zuerst im IPG-Journal.

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