Inland

Essen aus dem Chemielabor

von Jürgen von Polier · 15. November 2012

Eine Gruppe neun junger Frauen besucht die Ausstellung „Lebensmittelherstellung: gestern, heute und morgen“ auf dem Hamburger Großmarkt. Sie sind Hauswirtschaftsmeisterinnen – das richtige Zubereiten von Lebensmitteln gehört für sie deshalb zum Handwerk. „Das Museum ist fast wie ein Geheimtipp“, sagt die Vorsitzende des Deutschen Hausfrauenbunds Niedersachsen, Regina Reese. Es ermöglicht einen Blick hinter sogenannte E-Nummern und wohlklingende Beschreibungen.

Wer die Ausstellung sehen will, wird zunächst von einem Stahltor gestoppt. Eine Stimme weist den Weg: „Gehen Sie an der Treppe vorbei, immer geradeaus, und wenn Sie einen blauen Container sehen, links.“ Die Stimme gehört Christian Niemeyer. Der Diplom-Biologe leitet das Museum, das im Jahr 2008 eröffnet wurde.

Zusatzstoffe sollen Krebs auslösen

Er führt die Besucherinnen durch die Ausstellung. Vor einem Regal mit gefährlich aussehenden Plastikflaschen bleibt er stehen. Auf einigen prangen Gefahrensymbole – etwa ein schwarzes X auf orangem Grund. Es bedeutet „reizend“. Doch die darin enthaltenden Stoffe sind heute in nahezu allen Lebensmitteln enthalten.
Momentan gibt es 321 Zusatzstoffe. Davon sind zirka 100 immer wieder in der Kritik. Sie sollen Krebs, das Zappelphilipp-Syndrom ADHS oder Neurodermitis auslösen. Allergien scheinen oft das Minimum zu sein.

Getestet nur an Tieren, nicht an Menschen

Bekannt wurden die Stoffe durch ihre E-Nummern. Das „E“ steht für „edible“, auf Deutsch „essbar“. Hüterin dieser Nummern ist die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Sie entscheidet über Zulassung oder Ablehnung. Eine Zulassung bedeutet, dass ein Stoff im gesamten Euro-Raum erlaubt ist. Dafür wird eine Substanz erst in Zellkulturen und an Tieren getestet. Man prüft, wie viel die Tiere davon vertragen können, ohne zu sterben. Erst dann darf eine sehr viel kleinere Menge in Lebensmitteln benutzt werden. Niemeyer sagt: „Es ist nicht wie bei Medikamenten, dass man alles auch auf Kreuzreaktionen (Reaktionen verschiedener Stoffe untereinander) testet. Oder an Menschen. Dadurch weiß man nicht, welche Krankheiten oder Allergien sie hervorrufen. Welche Stoffe sind also sicher?

Wo beginnt Täuschung?

„Die Vorstellung, auf Zutatenlisten stünden alle Inhaltsstoffe, ist Quatsch“, sagt Niemeyer. Oft könne der Verbraucher gar nicht mehr nachvollziehen, was in der Verarbeitung möglich sei.
Das Gesetz verbiete zwar eine Täuschung des Verbrauchers. Eiernudeln dürfen zum Beispiel nicht gelb gefärbt werden. Das würde suggerieren, die Nudeln enthielten mehr Eigelb als eigentlich enthalten ist. Doch Konservenobst darf gefärbt werden, ebenso wie Margarine, die normalerweise farblos und unansehnlich ist.

»Natürliche Aromen«

In Deutschland ist die Einflussnahme der Industrie unterschwellig. Früher wurde Babymilch beispielsweise noch Vanillin zugesetzt. Babys empfinden beim Füttern im Arm der Mutter Wärme und Geborgenheit. Die assoziieren sie nun mit Vanillin. Ein Versuch unter heute dreißig- bis vierzigjährigen Probanden ergab Erstaunliches. Testpersonen, die als Baby mit dieser Milch gefüttert wurden, bevorzugten unterbewusst Produkte, die nach Vanille schmecken.

Während Christian Niemeyer all das erklärt, interessieren sich die Hauswirtschafterinnen für 39 silberne Dosen mit Plastikdeckeln. Darin befinden sich Wattepads, die mit Aromen getränkt sind. Die Dozentin der Gruppe, Frau Wittenberg, riecht an einer. Sie verzieht das Gesicht und sagt: „Oh, das würde meine Tochter nicht essen.“ Es ist der chemisch nachgebaute Geruch von Leber. Außerdem gibt es noch Ananas, Salami und Himbeere. „Mit 50 Milliliter Brombeeraroma kann man fünfzig Kilogramm Brombeergelee herstellen“, sagt Niemeyer. Auch einen Himbeerjoghurt herzustellen, der echten Himbeergeschmack beinhaltet, sei vielen Unternehmen zu teuer. Die Herstellung aus fermentiertem Holz ist günstiger. Anschließend wird der Geschmack aus dem Reagenzglas in Pulverform dem Joghurt zugesetzt.

Aus Schimmelpilzen werden Aromen

Unnatürlich sind die Aromen nicht. Jedenfalls nicht, wenn es nach den Lebensmittelkonzernen geht. Schließlich ist Holz ein natürlicher Bestandteil. Der Gesetzgeber sieht das auch so. Deshalb darf man auf der Zutatenliste anschließend „natürliches Aroma“ schreiben.  Das gilt auch für Zitronensäure. Sie wird mit dem Schimmelpilz „Aspergillus niger“ gewonnen. Manchmal ist er in den Fugen von Fliesen im Badezimmer zu finden. Wenn er unter Eisenmangel oder einem zu niedrigen PH-Wert leidet, scheidet er Zitronensäure aus. Diese Gattung könne für eine Reihe von Gesundheitsschäden verantwortlich sein – gerade für Allergiker. Die Nahrungsmittelindustrie macht sich die Unwissenheit des Kunden zu Nutze.
Ein Konzern in Deutschland hat mit diesem Spiel aufgehört: die Frosta AG, deren Schwerpunkt die Produktion von Tiefkühlkost ist. Seit 2003 sind alle Produkte frei von Zusatzstoffen. Es ist die einzige Tiefkühlmarke, die diese Umstellung konsequent durchgesetzt hat.

Lobbyisten in allen Bereichen 

Letztendlich sind nicht nur die Zusatzstoffe das Problem. Es ist die Art, wie der Verbraucher aus Mangel an Information mit ihnen umgehen muss. Die bewusste Entscheidung für oder gegen ein Produkt scheint fast unmöglich. Gesetzeslücken, hohe Gewinnmargen und Lobbyarbeit der Unternehmen sind dafür verantwortlich. Hinzu kommt, dass mehrere Verwaltungsratsmitglieder der EFSA in Aufsichtsräten der Lebensmittelindustrie vertreten sind. Das wurde 2011 durch eine Studie der Corporate Europe Observatory bekannt. Eine Organisation, die sich darauf spezialisiert hat, Einflüsse von Lobbyisten aufzudecken.

»Der Verbraucher wird getäuscht«

„Wir haben Lobbyisten in allen Bereichen. Das macht es schwer, etwas zu ändern“, kritisiert Christian Niemeyer. Eine Lösung sei, wenn überhaupt, nur sehr langfristig vorstellbar – durch Aufklärung, die bereits in der Schule beginne, sagt der Biologe. 

Auch Frau Steuernagel ist erstaunt. Die Meisterin der Hauswirtschaft bilanziert: „Ich finde es erschreckend, dass selbst, wenn man als Verbraucher über diese Dinge Bescheid weiß, man doch immer noch getäuscht wird. Am Ende ist man den Firmen doch ausgeliefert.“

Autor*in
Jürgen von Polier

ist ausgebildeter Immobilienkaufmann, Lyriker und Autor.

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