Inland

Eskalation: Minderheit nimmt Anti-G20-Lager in Geiselhaft

Bis zum Donnerstagabend war alles ruhig: Seitdem eskaliert in Hamburg die Gewalt. Was viele tausend Demonstranten zuvor friedlich aufgebaut hatten, haben wenige hundert Randalierer nun zunichte gemacht. Ein Kommentar:
von Robert Kiesel · 7. Juli 2017
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Nun sind sie doch da, die Bilder aus Hamburg, die niemand sehen will: Schwarz vermummte Gruppen ziehen durch menschenleere Wohnviertel, zerschlagen Fensterscheiben von Blumen- oder Spielzeugläden, zünden Autos der Anwohner an, darunter Kleinwagen und Oldtimer. Während sich in den Hamburger Messehallen davon nahezu unbeeinträchtigt die Staats- und Regierungschefs der G20-Mitglieder zu Beratungen über Terrorismusbekämpfung zusammensetzen, verwandelten Gewalttäter am Freitagmorgen zumindest einige Teile der Hamburger Innenstadt in ein Schlachtfeld.

Gewalt diskrediert das gesamte Protest-Lager

Angesichts der kursierenden Bilder wird niemand ernsthaft dem Kommentar von SPD-Vize Ralf Stegner widersprechen, der „Gewalt in jeder Form als das falsche Mittel“ brandmarkt. „Randalierer, Brandschatzer und Gewalttäter diskreditieren friedlichen Protest, für den es gute Gründe gibt, etwa sich friedlich für globale Gerechtigkeit zu engagieren“, erklärt Stegner weiter und trifft den Nagel auf den Kopf.

Was die durch Hamburg-Altona ziehenden Gewalttäter nicht wissen oder – noch schlimmer – nicht wissen wollen: Mit ihren „Aktionen“ legen sie das friedliche, kreative und tatsächlich politische Engagement tausender Anti-G20-Demonstranten buchstäblich in Schutt und Asche. Aktionen wie die am Donnerstag unter dem Titel „1000 Gestalten“ durch die Innenstadt schleichenden „Lehm-Zombies“ waren der beste Beleg dafür, wie friedlicher und gleichsam ausdrucksstarker Protest aussehen kann. Unzählige weitere Veranstaltungen haben bereits stattgefunden oder werden noch folgen. Sie zeigen: Der überwiegende Teil des Protests für eine gerechtere Weltordnung ist bunt, vielfältig und friedlich.

Kampf um die Deutungshoheit

Bleiben aber, das steht jetzt schon fest, werden die Bilder vom Freitagmorgen. Genüsslich werden sie von allen jenen ausgeweidet, die den Anti-G20-Protest von vornherein als „Chaoten-Festspiele“ diskreditiert hatten. Unterstützt durch eine in Teilen auf Eskalation nur wartende Medien werden sie jede zerschlagene Fensterscheibe, jedes brennende Auto für eins nutzen: um den Protest gegen Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, der so bitter nötig ist, zu delegitimieren.

Hinzu kommt: Mit ihrer blinden Zerstörungswut sorgten die Gewalttäter dafür, den am Tag zuvor unvorhergesehen gewonnenen moralischen Vorsprung des Protestlagers gegenüber den Sicherheitsbehörden in sein Gegenteil zu verkehren. Das massive, von Beobachtern  übereinstimmend als eskalierend beschriebene Vorgehen der Polizei am Rande der Demonstration „Welcome to hell“ hatte zwischenzeitlich dazu geführt, dass die G20-Gegner im Duell um die Deutungshoheit der Ereignisse einen Vorteil hatten erringen können. Zu eindeutig waren die auf Fotos und Videos festgehaltenen Attacken der Polizeikräfte, deren gewalttätiges Agieren auch vor Pressevertretern nicht Halt gemacht hatte. Weil sich die Tumulte an einer Engstelle abgespielt hatten, die den eingepferchten Menschen kaum Möglichkeiten zur Flucht ließ, sprachen Medienvertreter später übereinstimmend von einer fahrlässigen Gefährdung der anwesenden Menschen.

Eine verpasste Chance

Ohne die Bilder von Krawalle und Zerstörung hätte all dies dazu führen können, eine ernsthafte Diskussion darüber anzustoßen, wie hart der Staat und seine Organe gegen Bürger vorgehen dürfen, die friedlich ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen. Diese Chance ist nun – einmal mehr – vertan.

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

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