Inland

„Es geht nicht mehr darum, sich an den eigenen Eltern auszutoben“

von Nils Hilbert · 9. März 2012

Was bedeutet heute Jungsein? Und warum tun sich Erwachsene oft so schwer mit Jugendlichen? Ein Interview mit dem Autor Fred Grimm über sein Buch „Wir wollen eine andere Welt!“

vorwärts.de: Herr Grimm, wären Sie gerne noch einmal jung?
Fred Grimm: Nur, wenn ich morgens aufstehe und meine Knie spüre. Ansonsten käme es auf den Rahmen an – als großbürgerlicher Jugendlicher hätte ich Anfang des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich ein angenehmeres Leben gehabt als der junge Arbeiter, als Junge mehr Möglichkeiten als die Mädchen.

Für wen haben Sie Ihr Buch über die Jugend in Deutschland geschrieben, für Jugendliche oder für Erwachsene?
Eigentlich für alle. Jeder der älter ist, war mal jung und findet es vielleicht reizvoll, noch einmal in diese Atmosphäre einzutauchen. Und Jugendliche finden es spannend zu schauen, was sie mit Jugendlichen aus früherer Zeit verbindet und wo die Unterschiede liegen. So waren auch die Reaktionen, die ich auf mein Buch bekommen habe. Ich hoffe, dass jeder für sich aus diesem Buch etwas herausziehen kann.

Haben Sie einen gemeinsamen Kern gefunden, der Wandervögel, Punks und Greenpeace-Jugend verbindet?
Mit Generalisierungen tue ich mich immer etwas schwer. Auch meine Methode, auf Tagebücher und andere persönliche Quellen zuzugreifen, ist ja sehr individualistisch. Und im Detail ist eben vieles bei den Jugendlichen anders, als der zeitliche Kontext vermuten lässt. Aber es gibt natürlich Dinge, die immer wiederkehren: der Reflex, die Jugend als „Untergang des Abendlandes“ zu sehen. Der Begriff des Halbstarken machte ja schon zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Runde. Der Abwehrkampf der Erwachsenengeneration gegen solche Zerrbilder von Jugendlichen, der zieht sich durch.

Ist es Neid, der die Erwachsenen antreibt, auf diese Weise auf Jugendliche zu reagieren? Vielleicht das Gefühl, abgehängt zu sein?
Ja, das spielt vielleicht mit hinein. Aber vor allem ist es der gesellschaftliche, soziale und kulturelle Wandel, der mit Jugend assoziiert wird und der die eigene Autorität in Frage stellen könnte. Denken Sie nur an den Kampf gegen die jungen Arbeiter zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Da spielte neben moralischen Vorbehalten auch die Angst vor einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft eine Rolle.

„Wir wollen eine andere Welt“ – dieses Zitat schmückt den Einband – ist also Leitmotiv des Jugendlichen?
Naja, es wäre ein sehr romantischer Zugriff, wenn man es so absolut setzen würde. Es gab zu allen Zeiten Jugendliche, die mit dem Bestehenden einverstanden waren und sich wunderbar arrangierten. Jugend und Rebellion gleichzusetzen, würde es also nicht treffen. Im Prinzip soll dieser Titel eines reflektieren: Immer wenn man jung ist, werden Fragen, die Ältere sich schon beantwortet haben, wieder neu gestellt. Ist die Gesellschaft, in der ich lebe, gerecht? Wer darf sich eigentlich in meine Gefühle einmischen und mit welchem Recht? Die Frage nach einer anderen Welt ist dabei also immer gegenwärtig.

Ist die Welt von Jugendlichen eigentlich durchdringbar, oder bleibt immer nur der mehr oder weniger verständnislose Blick von außen?
Es bleibt natürlich immer eine Außenschau, aber hoffentlich auch eine aufregende Zeitreise, die den Leser zum Zeitgenossen macht. Die großen Veränderungen dürften auf jeden Fall sichtbar werden. Zum Beispiel dieser paradigmatische Wechsel in den 1960er Jahren: Bis dahin stellte das Ältere, das Erfahrene einen Wert an sich dar. Seither geht die Tendenz eher dahin, dass alle lieber jung bleiben wollen. Heute kleiden sich 40-Jährige wie 18-Jährige. In den 50ern wäre das absurd gewesen. Früher wollten die Jungen möglichst schnell erwachsen sein, jetzt wollen alle möglichst lange jung bleiben. Durch die Verwendung von Tagebuchauszügen, Aufsätzen und Briefen von 12- bis 25-Jährigen können die Leser ein Gefühl dafür entwickeln, wie es früher war, jung zu sein: Wie haben Jugendliche ihre Zeit erlebt, welche Utopien haben sie beschäftigt, wie war das mit dem ersten Kuss? Durch diese authentische Perspektive wird vieles intellektuell nachvollziehbar. Aber es ist natürlich schwierig, den Rausch des ersten Kusses noch einmal zu erleben. Oder das Gefühl, das man mit vierzehn hatte, wenn man glaubte, die Welt völlig neu begriffen zu haben.

Warum dieser Bruch ausgerechnet in den 60er Jahren?
Die Pop- wurde zur Leitkultur. Und die Werbeindustrie mischte immer stärker mit. Die „erfahrene Hausfrau“ und der „graumelierte Herr“ wurden innerhalb weniger Jahre gegen die Tochter und den Sohn ausgetauscht, die von nun an die Werbebotschaften dominierten. 1961 hatten wir Vollbeschäftigung in Deutschland, die Jugendlichen wurden als Konsumenten immer interessanter. Hinzu kam schließlich die gesellschaftliche Diskussion, die Autoritäten noch einmal ganz anders in Frage stellte: Was haben die eigenen Eltern eigentlich im »Dritten Reich« getan? Was sind die von ihnen vertretenen Konventionen heute noch wert?

Ihr letztes Kapitel über die Jahre 1990-2010 vermittelt den Eindruck, dass sich Jugendliche heute oft einsam fühlen und eher Sicherheit als Wandel suchen.
Ich denke, es gab Zeiträume, in denen die Jugendlichen größere Freiräume hatten als heute. Heute diktiert der Lebenslauf, den man bei der Bewerbung abgeben muss, ganz schön viel. Es gibt eigentlich keine Zeitfenster mehr, in denen man einfach mal gar nichts machen muss. An dieser Stelle hat es die heutige Generation bestimmt schwerer. Allerdings denke ich nicht, dass wir die Jugend von heute bedauern müssen, weil sie gar nicht mehr gegen ihre Eltern kämpfen könnten. Ehrlich gesagt finde ich es wunderbar, dass die Jugendlichen nicht mehr so erzogen werden wie vor 60 Jahren. Ist doch wunderbar, wenn heute viele Kinder zu ihren Eltern eher ein freundschaftliches Verhältnis haben und sie nicht mehr diesen reflexhaften Generationenkrieg, der damals ja seine Berechtigung hatte, führen müssen. Allerdings glaube ich auch, dass die heutige Jugend für und um andere Dinge kämpfen muss und will. Es geht ja auch für die heutige Jugend um die Frage, in welcher Welt wir morgen leben. Und da erleben wir keinen klassischen Generationenkonflikt mehr, sondern eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Frage, welche Welt man einmal an die eigenen Kinder weitergeben will.

Fred Grimm: „Wir wollen eine andere Welt!“ – Jugend in Deutschland 1900-2010.
448 Seiten, Tolkemitt Verlag, 2010, 29,80 Euro, ISBN 978-3-942048-17-0

Autor*in
Nils Hilbert

war Redakteur der DEMO – Demokratische Gemeinde.

 

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