Energiekrise: Wie der Kohleausstieg gelingen kann – sogar schon 2030
Dirk Bleicker
Angesichts der drohenden Gasknappheit wird diskutiert, die drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. Ist das sinnvoll?
Das ist nur ein sehr kleines Element. Die Rechnungen zeigen uns, wenn wir das täten, wenn wir über den Winter die Atomkraftwerke laufen ließen, dann könnten wir ein bis anderthalb Prozent der Gaskapazitäten, die jetzt in die Erzeugung von Strom gehen, einsparen. Auch rechtlich wäre es schwierig, denn wir müssten entsprechende Sicherheitschecks machen. Das Wirtschaftsministerium prüft das jetzt ja gewissenhaft.
Ist der Kohleausstieg spätestens 2038 durch den Krieg in der Ukraine in Gefahr?
Nein, das können wir hinkriegen. Wir haben jetzt eine Übergangssituation und müssen schmerzhafte Kompromisse machen. Wir müssen Kohle hochfahren, weil uns das Gas auszugehen droht. Wir können ja die Menschen im Winter nicht ohne Wärme dastehen lassen. Dieser Schritt ist zurzeit leider alternativlos. Aber wir werden erleben, dass wir eine Beschleunigung bekommen beim Ausbau der Erneuerbaren Energien. Wenn uns das gelingt in Kombination mit Energieeffizienzsteigerungen – und da sind wir schon besser geworden, weil durch den Ukraine-Krieg alles teurer geworden ist – dann können wir das schaffen und sogar bis 2030 aus der Kohle rausgehen.
Die Europäische Union hat das Aus für Autos mit Verbrenner-Motoren ab 2035 beschlossen. Welchen Effekt hat das für Klima und Umweltschutz?
Das ist im Grunde eine Frage reiner Mathematik. Wenn man bis 2045 in Deutschland klimaneutral sein will, dann darf man nicht nach 2035 noch Verbrenner-Motoren verkaufen. Denn die haben eine Lebensdauer von zehn, 15 Jahren und mehr. Kurz: Wer bis 2045 Klimaneutralität ankündigt, der muss spätestens 2035 aus dem Verbrenner raus.
Das Neun-Euro-Ticket war eher eine spontane sozialpolitische Idee, um Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?
Meine Zwischenbilanz ist positiv. Viele Menschen sind umgestiegen. Wir haben 26 Millionen dieser Tickets verkauft. Das ist toll. Wir wollen, dass die Menschen stärker den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Insofern: Nachfolgelösungen zu finden, wäre sehr wichtig.
Zugleich müssen wir aber auch die Infrastrukturen des öffentlichen Nahverkehrs, Fern- und Nahverkehr ausbauen, um eine angemessene Qualität zu bieten. Da sind hohe Investitionen notwendig in die Schiene, hohe Investitionen auch in den Städten selbst. Da müssen wir nachlegen.. Wir brauchen gute und günstige Angebote.
Wie könnte so eine Anschlussregelung aussehen, und ab wann sollte die in Kraft treten?
Aus meiner Sicht sollten wir so schnell wie möglich einen Anschluss finden. Wir sollten keine Lücke entstehen lassen. Sonst könnten wir wieder Menschen verlieren. Die Menschen haben sich jetzt daran gewöhnt und sind eingestiegen in den öffentlichen Verkehr.
Was die Preisgestaltung angeht, liegen ein paar Vorschläge auf dem Tisch. Das Ticket sollte günstig und sozial inklusiv ausgerichtet sein.
Es gibt viele Möglichkeiten, um das Klima zu schützen oder wenigstens zu stabilisieren. All das ist mit extrem hohen Kosten verbunden. Wie sollen die gestemmt werden?
Da bin ich optimistisch und positiv. Ein wesentlicher Baustein für die Klimaneutralität ist die Transformation des Energiesektors. Da geht’s um die Erneuerbaren Energien, die jetzt ausgebaut werden müssen, und die sind mittlerweile viel günstiger als vor zehn Jahren. Fossile Energieträger, Nuklearenergie, das ist alles deutlich teurer als Wind-Strom und Geothermie.
Zwar sind die Anfangsinvestitionen groß, weil wir jetzt das Infrastruktursystem umbauen müssen, aber die Kostenstrukturen insgesamt zeigen uns, die Erneuerbaren Energien sind auf Dauer die günstigste Variante, Strom und Wärme zu erzeugen und unsere Wirtschaft am Laufen zu halten.
Sie haben im vorigen Jahr eine Verankerung des Umgangs mit dem Klimawandel im Grundgesetz gefordert. Was würde eine solche Grundgesetzergänzung denn verändern?
Ich verbinde damit zwei Aspekte. Der erste Aspekt geht zurück auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz. Danach ist ein stabiles Klima die Grundlage für Freiheitssicherung, für Grundgesetzsicherung und für zukünftige Generationen und deren Lebensstandard.
Um diesen Punkt deutlich zu machen: Wir leben in der Epoche eines Erdsystemwandels, der abgewendet werden muss, und das im Grundgesetz zu verankern, das wäre meine erste Idee. Es hätte einen starken symbolischen Charakter und würde unterstreichen, was das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat.
Der zweite Punkt ist sehr konkret: die Klimaanpassung. Wir werden uns dem Klimawandel anpassen müssen, selbst wenn wir erfolgreich Klimaschutz betreiben und die Temperatur noch unter zwei Grad halten, werden wir Wirkungen des Klimawandels sehen. Wir haben das Ahrtal erlebt im vorigen Jahr. Wir haben enorme Hitzewellen und wir sind erst bei 1,2 Grad globaler Erwärmung. Wenn wir angesichts dieser Entwicklung im Grundgesetz vereinbaren, dass das eine Gemeinschaftsaufgabe des Bundes und der Gemeinden ist, dann unterstützt das die Kommunen. Bisher sind im Wesentlichen für die Anpassungsmaßnahmen auf der kommunalen Ebene die Kommunen selbst zuständig. Das kann zu Überforderung führen.
Was kann Politik tun, um die Bürgerinnen und Bürger bei den dringend notwendigen Einschnitten für den Klimaschutz mitzunehmen?
Wir fordern den Bürgerinnen und Bürgern, auch den Unternehmern im Grunde, genommen einiges ab. Wir sagen: Wir brauchen einen schnellen Wandel. Wir brauchen einen breiten Wandel in allen möglichen Teilen von Wirtschaft und Gesellschaft. Menschen und Organisationen zu motivieren für tiefe, schnelle Veränderungen, das ist nicht voraussetzungslos. Deswegen sind folgende Aspekte ganz wichtig:
Die Menschen müssen verstehen, dass wir ein ernsthaftes Problem haben. Ich glaube, viele Menschen haben das verstanden. Auch die Flutkatastrophe im Ahrtal und die Hitzewelle haben dazu beigetragen.
Der zweite Punkt ist: Wir müssen Lösungen anbieten, die funktionieren. Ansonsten paralysieren wir die Menschen, wenn wir sagen, wir haben ein überbordendes Problem, leider aber keine Lösungen, die gut funktionieren. Das Umweltbundesamt erarbeiten Lösungen. Wir zeigen, wo Dinge schon funktionieren und dass die Lösungen besser und günstiger sind als nichts zu tun.
Drittens müssen die Menschen sehen, dass das gerechte und faire Lösungen sind, an denen wir arbeiten. Wenn der Eindruck entstünde, Klimaschutz verschärft die sozialen Ungleichheiten in unserem Land, dann werden wir nicht weit kommen. Die Gelbwesten-Diskussion, die wir in Frankreich vor zwei, drei Jahren gehabt haben, die war da ein Warnsignal. Wir müssen Klimaschutz und soziale Gerechtigkeitsfragen eng miteinander verbinden.
Viertens gilt: Die Menschen müssen beteiligt werden. Das sehen wir bei all den Windanlagen. Wenn die Kommunen auch finanziell beteiligt werden an den Erlösen, die da generiert werden, die Bürger*innen direkt merken, das ist etwas, was uns zugutekommt, dann funktioniert das auch.
Wenn man das noch verbindet mit der Perspektive Klimaschutz, Umweltschutz, Nachhaltigkeitspolitik stärkt unsere Lebensqualität, es stärkt unser Wohlbefinden. Wenn wir diese Verbindungen stark machen, dann haben wir gute Chancen, dass wir da vorankommen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.