Energiekrise in Deutschland: Warum volle Gasspeicher nicht reichen
IMAGO/Sven Simon
Bernd Westphal, die deutschen Gasspeicher sind bald zu 75 Prozent gefüllt. Damit ist das erste Zwischenziel der Bundesregierung erreicht, um durch den Winter zu kommen. Können wir also durchatmen?
Nein. Die 75 Prozent sind erstmal nur der aktuelle Speicherfüllstand für Gas – in einer Zeit, in der der Verbrauch gering ist. Wenn wir im Winter Gas entnehmen, werden wir deshalb weiterhin auf Gas-Lieferungen angewiesen sein. Wir verbrauchen ungefähr 90 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr, speichern können wir aber nur 25 Milliarden. Daran sieht man: Der derzeitige Speicherstand ist ein gutes Polster und stabilisiert den Markt, wir brauchen aber weiterhin Gas aus den Niederlanden, Norwegen und anderen Ländern, um eine Versorgungssicherheit gewährleisten zu können.
Sie sehen also noch keinen Grund zur Entwarnung?
Nein. Es ist weiterhin jeder dazu aufgerufen, Gas zu sparen. Jede eingesparte Kilowattstunde Gas hilft außerdem, die Preise insgesamt zu drücken.
Wer mit Gas heizt, sieht den Preisanstieg erst mit der nächsten Abrechnung. Sollten die aktuellen Kosten vielleicht schneller zu sehen sein, damit mehr gespart wird?
Das stimmt, die steigenden Preise werden erst sichtbar, wenn die aktuellen Verträge auslaufen. Bei den aktuellen Debatten gehe ich aber davon aus, dass allen die Situation schon jetzt klar ist.
Wir haben uns in der Koalition auch bewusst dagegen entschieden, dass die hohen Preise weitergegeben werden. Wenn Großhändler wie Uniper jetzt ihre Einkaufspreise weiterreichen würden, würden die Stadtwerke vor Ort in eine Schieflage geraten. Das darf nicht passieren, deswegen haben wir uns für die Versorgungssicherheit und für eine Gas-Umlage entschieden. Auch wenn ich die Beweggründe für die Umlage nachvollziehen kann, wäre es aber aus meiner Sicht einfacher und vor allem gerechter, die Kosten über Steuermittel zu finanzieren und nicht über die Gasrechnung.
(Ab wann, wie hoch, für wen: Was Sie zur Gasumlage wissen müssen)
Wenn am Ende der Staat zahlt, gäbe es doch aber weniger Anreiz, Gas einzusparen.
Nicht, wenn das nur für eine bestimmte Menge gilt – beispielsweise 80 Prozent des Durchschnittsverbrauchs pro Haushalt oder pro Person. Also eine Art Grundversorgung, bei der der Preis gedeckelt wird und der Staat die Differenz zahlt. Und wer darüber hinaus mehr verbraucht, zahlt dann auch deutlich mehr. Ich bin davon überzeugt, dass trotzdem Gas gespart und gleichzeitig die Haushalte entlastet werden.
Könnten wir so viel sparen, dass die Gaspreise sogar wieder sinken?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Spätestens wenn im September die Heizungen angeschaltet werden, wird der Gasverbrauch steigen. Hinzu kommt die Prozesswärme und Gas als Rohstoff in der Industrie.
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Viele Unternehmen sparen hier auch schon deutlich ein. Manche Betriebe verlagern ihre Produktion teilweise allerdings ins günstigere Ausland, zum Beispiel die chemische Industrie in Richtung USA. Das ist natürlich sehr gefährlich, weil niemand sagen kann, ob die Produktion wieder zurück nach Deutschland kommt und die Arbeitsplätze bestehen bleiben. Wir müssen deshalb möglichst schnell Alternativen zum russischen Pipeline-Gas organisieren.
Welche Branchen betrifft das besonders?
Die Industrie insgesamt. Historisch betrachtet ist die Industrie immer der Energie gefolgt. Denn wir hatten in den vergangenen 150-200 Jahren mit heimischer Braun- und Steinkohle sowie Gas zuverlässige Energieträger zur Verfügung. Wenn wir jetzt wieder mehr Kohle in der Stromerzeugung einsetzen, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die zusätzlichen CO2-Emissionen möglichst vermeiden können. Bei der Biomasse brauchen wir mehr Offenheit für die Verwendung als Energieträger. Es kann nicht akzeptiert werden, dass die Hälfte des in Deutschland erzeugten Getreides als Futtermittel in der Fleischproduktion verwendet wird.
Kommen wir nochmal zurück zur aktuellen Energiekrise: Jedes EU-Land muss 15 Prozent seines Gasverbrauchs sparen. So sieht es der Notfallplan vor, der seit Dienstag gilt. Sollte Deutschland als das Land mit dem größten Gasverbrauch nicht noch mehr sparen?
Für Deutschland reden wir bei einer Einsparung von 15 Prozent von rund 10 Milliarden Kubikmetern Gas. Das ist machbar. Es hängt aber von vielen Faktoren ab: Wie werden Heizungen eingestellt, wie werden Nichtwohngebäude beheizt, was ist mit den Büros, den Verwaltungsgebäuden und Behörden? Die Einsparkampagne des Wirtschaftsministeriums müsste da konkreter sein: intensiver, praktischer, mit mehr Beispielen vor Ort.
Aber nochmal die Frage: Können wir in Deutschland noch mehr schaffen, gibt es in der Industrie noch Potenzial?
Mehr geht immer! Kurzfristig können Unternehmen zum Beispiel prüfen, ob sie auf Öl statt Gas oder andere Energieträger umsteigen können. Dann muss aber auch die Logistik wie zum Beispiel Kesselwagen dafür zur Verfügung stehen, Anlagen müssen durch die Behörden dafür unter Umständen zügig genehmigt werden. Natürlich geht in einer Krise immer mehr!
Im deutschen Notfallplan Gas befinden wir uns gerade in der zweiten, der Alarmstufe – kann es trotzdem passieren, dass noch der Notfall, also die dritte Stufe ausgerufen wird?
Das ist möglich, wenn das Gas eben wirklich knapp werden sollte. Die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck daran das zu verhindern. In der Alarmstufe haben wir schon einige Maßnahmen, wie mehr Gasimport aus anderen Bezugsquellen, Gaseinspeicherung oder auch das LNG-Beschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht. Wenn wir aber in eine wirkliche Mangellage geraten sollten und der Markt gestört ist, werden wir als Politik pragmatisch und schnell handeln.
Wäre diese Situation schon erreicht, wenn Russland Nordstream 1 komplett abschalten würde?
Dann könnte es zu erheblichen Störungen der Gasversorgung und noch höheren Preisen am Gasmarkt kommen. Die Wahrscheinlichkeit für die Ausrufung der Notfallstufe wäre groß.