Einwanderung: Deutschland braucht 400.000 Fachkräfte pro Jahr
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Deutschland ist stark vom demografischen Wandel betroffen. Dadurch gibt es aktuell einen Rekord an offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Aktuell sind es circa 1,8 Millionen und in den kommenden Jahren könnten es noch mehr werden. Daher will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zum einen Anreize schaffen, um Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen und sie für die entsprechenden Jobs zu qualifizieren. Zum anderen plant Heil gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) im Herbst einen Gesetzesentwurf vorzulegen, um für Fachkräfte die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, zu erleichtern.
Deutlich mehr Zuwanderung nötig
Das ist aus der Sicht verschiedener Expert*innen dringend nötig. Durch den demografischen Wandel gebe es jedes Jahr 350.000 Menschen im erwerbstätigen Alter weniger in Deutschland, führt der Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker, der den Forschungsbereich „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg leitet, bei einem Pressegespräch des Mediendienstes Integration am Donnerstagvormittag aus. Würde die Entwicklung so weitergehen, gäbe es bis zum Jahr 2060 ein Drittel weniger Arbeitskräfte in Deutschland. Um das auszugleichen, bräuchte es eine Netto-Einwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr. Damit diese erreicht werden könne, seien insgesamt schätzungsweise 1,6 Millionen Zuzüge notwendig.
„Im letzten Jahrzehnt war Deutschland das bedeutendste Einwanderungsland innerhalb Europas“, führt Brücker aus. In Folge der Finanzkrise 2008/09 habe es eine gewaltige Umlenkungsbewegung gegeben. Nun kämen jedoch zwei Krisen zusammen: zum einen der thematisierte demografische Wandel, zum anderen gehe auch der Zuzug nach Deutschland aus EU-Ländern zurück, da sich vielfach in den Herkunftsländern die Bedingungen verbessert hätten. Brücker mahnt: „Wenn wir die entsprechenden Bedingungen hätten, wären wir auch global gesehen ein attraktives Einwanderungsland.“
Winter: Ohne Zuwanderung Gefahr für die Sozialversichtungssysteme
Auch Markus Winter ist die Problematik bekannt. Er ist seit 2013 Geschäftsführer des Industriedienstleisters IDS in Baden-Württemberg mit 700 Mitarbeiter*innen sowie Vorsitzender des Beirats „Ausbildung und Migration“ der Industrie- und Handelskammer Stuttgart. „Es ist nicht mehr möglich, annähernd ausreichend Arbeitskräfte innerhalb Deutschlands zu generieren“, berichtet er. Auch innerhalb Europas seien die Ressourcen langsam erschöpft. Daher mahnt er: „Ohne diese Zugewanderten werden wir in der Industrie ein riesiges Problem bekommen.“
Seiner Meinung nach sollte ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz entsprechend darauf geprüft werden, ob es geeignet sei, die erforderlichen 400.000 Personen nach Deutschland zu bringen. Winter warnt: „Wenn wir zu lange warten, wird nicht nur das Rentenversicherungs-, sondern auch das Krankenversicherungssystem kippen.“
Geflüchtete sind nur bedingt eine Lösung
Die Rechtsanwältin Bettina Offer berät mit ihrer Kanzlei bundesweit international tätige Konzerne und mittelständische Unternehmen, die ausländische Mitarbeiter*innen beschäftigen. Sie schlägt vor, analog zur Regelung für die Staaten des Westbalkans Kontingente für Menschen aus bestimmten Ländern zu schaffen, damit diese legal als Arbeitskräfte nach Deutschland kommen könnten. „Es ist sehr viel sinnvoller, Arbeitskräfte legal anzuwerben als sie über das Mittelmeer auszuwählen“, kommentiert sie mit Blick auf Fluchtbewegungen nach Europa.
Die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten sehen die Expert*innen nur bedingt als geeignetes Mittel, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Das liege zum einen daran, dass es in diesem Fall keine entsprechende Vorbereitung für die Arbeitsmarktintegration gebe, führt Brücker aus. „50 Prozent der Geflüchteten, die 2015 gekommen sind, sind jetzt im Arbeitsmarkt. Das ist durchaus ein Erfolg, aber es hat lange gedauert, auch wegen langwieriger Asylverfahren.“ Zum anderen habe es auch Probleme bei der Integration gegeben, berichtet Winter, die nach eigenen Angaben seit 2015 250 bis 300 Geflüchtete selbst eingestellt hat.
Sanktionen für Kommunen?
Aus Bettina Offers Perspektive sei ohnehin die Rechtslage gar nicht entscheidend, sondern viel mehr die Frage der Umsetzung vor Ort, in den Konsulaten im Ausland sowie in den Städten und Kommunen. „Es gibt wenig Sanktionsmöglichkeiten, wenn das System nicht funktioniert“, bedauert sie und fordert daher: „Wenn es zu lange dauert, muss es für die Kommunen teuer werden.“ Auch müssten Unternehmen eine Art Widerspruchsrecht erhalten, wenn die Einwanderung benötigter Fachkräfte seitens der Behörden abgelehnt werde.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo