Inland

„Eine Sternstunde der deutschen Sozialdemokratie“

von ohne Autor · 7. Oktober 2009
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vorwärts.de: Herr Meckel, Herr Gutzeit, Sie beide waren an der Gründung der SDP vor 20 Jahren maßgeblich beteiligt. Was hat sie damals bewogen, eine Partei ins Leben zu rufen?

Markus Meckel: Zunächst ist wichtig, dass wir uns ganz bewusst dafür entschieden haben, eine Partei zu gründen. Das war der große Unterschied sowohl zu den Bürgerbewegungen, die mit uns vorher in der Opposition waren, wie dem "Neuen Forum" oder "Demokratie jetzt!". Wir wollten durch Wahlen legitimierte interne Strukturen und uns eine Programmatik geben. Am Anfang haben wir zehn sehr grundsätzliche inhaltliche Paragrafen beschlossen, aus denen jeder ersehen konnte, worum es bei dieser Partei geht. So wusste jeder, der sich uns später angeschlossen hat, was die Richtung ist. Wir wollten nicht für alle sprechen, sondern für die, die sich unserem Programm anschließen. Gleichzeitig wollten wir der Gesellschaft die Perspektive einer parlamentarischen Demokratie westlichen Musters geben.

Martin Gutzeit: Wir haben uns mit der Gründung der SDP bewusst in die sozialdemokratische Geschichte gestellt. Gleichzeitig mit der Parteigründung haben wir auch den Antrag auf Aufnahme in die Sozialistische Internationale gestellt. Gerade der internationale Zusammenhang spielte für uns eine wichtige Rolle.


Im Gegensatz zu heute war die Gründung einer Partei wie Sie sie vollzogen haben illegal. Hatten Sie Angst?


Gutzeit: Es war natürlich nicht ausgemacht, dass wir diese Gründung ungehindert überstehen. Markus Meckel und ich haben uns damals in der Nacht zum 7. Oktober in Berlin getroffen - und zwar mitten auf einem Bahnsteig am S-Bahnhof Warschauer Straße. Wenn einer von uns verfolgt worden wäre, hätte man das gesehen. Danach sind wir raus nach Schwante gefahren. Als das Gründungstatut dann dort unterschrieben war, machte sich schon eine gewisse Erleichterung breit, dass wir es geschafft hatten.


Welches Selbstverständnis hatte die SDP?

Meckel: Wir wollten uns den globalen Herausforderungen unserer Zeit stellen und gleichzeitig der eigenen Gesellschaft eine neue Perspektive geben. Es galt, mit diesem Neuansatz gleichzeitig die Provinzialität der kleinen DDR zu verlassen. Auf die SED bezogen machten wir die Zwangsvereinigung rückgängig, wir zogen gewissermaßen die Hand der SPD aus dem SED-Parteiabzeichen und gingen damit an die Wurzeln des Selbstverständnisses der SED. So entzogen wir der SED ihre selbst ernannte Legitimation und stellten ihr absolutes Wahrheits- und Machtmonopol infrage.


Wollten Sie die DDR abschaffen?

Meckel (lacht): Was heißt, die DDR abschaffen? Wir wollten ein anderes System, eine repräsentative, parlamentarische Demokratie westlichen Musters. Dass eine Mauer zwischen zwei demokratischen deutschen Staaten absurd sein würde, war uns klar. Aber das war für uns eine Frage für danach. Gleichzeitig wollten wir nicht die Einheit mit der Brechstange, die die europäische Sicherheit gefährdet hätte. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir die Zweistaatlichkeit anerkennen, aber die besonderen Beziehungen zur Bundesrepublik betonen. Schon im August 1989 änderten wir dann den Entwurf des Partei-Aufrufs und deuteten vorsichtig mögliche Änderungen in der deutschen Frage an, jedoch mit dem Kriterium, dass es im Rahmen einer europäischen Friedensordnung geschehen müsse. Die Einheit Deutschlands schien uns in dieser Zeit nicht direkt intendierbar, denn da hätten viele mitzureden gehabt.

Gutzeit: Weder die Bundesrepublik, noch die DDR war ja damals in der deutschen Frage souverän. Dass es neue Optionen geben könnte, darüber haben wir schon seit 1987 nachgedacht. Eine neutrale Position Deutschlands, also die Frage nach einem so genannten dritten Weg, spielte für uns dabei allerdings keine Rolle.

Meckel: Darin unterschieden wir uns übrigens von manchen anderen innerhalb der Opposition, von denen einige sogar eine Räterepublik anstrebten. International waren wir gegen einen Austritt aus dem Warschauer Pakt und gegen einen Neutralitätsstatus für Deutschland. Unsere Philosophie bestand darin, sich innerhalb der Blöcke dafür einzusetzen, sie entsprechend zu verändern.

Gutzeit: Und wir konnten unseren Teil dazu leisten, indem wir versuchten, im östlichen Teil Deutschlands ein akzeptables politisches System zu etablieren. Wer auf unsere Programmatik schaut,wird sehen, dass die Grundprinzipien des Grundgesetzes schon damals bei der SDP verankert waren.


Als Sie die Partei am 7. Oktober gründeten, waren andere Initiativen bereits aktiv.

Meckel: Ja, aber all die anderen Initiativen kannten unseren Aufruf ja schon seit Juli oder August. Am 26. August gaben wir ihn in die Öffentlichkeit und am 29. erschien auch eine Meldung in der Frankfurter Rundschau. Diejenigen, die das "Neue Forum" oder den "Demokratischen Aufbruch" gründeten, kannten unsere Initiative und haben sich bewusst entschieden, etwas anderes zu wollen. Die organisatorische Vorarbeit für eine Partei ist nun aber viel aufwändiger als die Veröffentlichung eines Aufrufs. Uns war wichtig, mit einer Parteigründung vermittelte Prozesse der Willensbildung auf den Weg zu bringen. Die Hürde für die Mitgliedschaft war wegen des Risikos relativ hoch, bei den anderen geringer. Letztlich hat jedoch beides zusammen die Friedliche Revolution möglich gemacht.


Wie sahen die Reaktionen der West-SPD nach der Veröffentlichung des Gründungsaufrufs aus?

Gutzeit: Im Laufe des Septembers gab es noch keine persönlichen Kontakte, aber öffentliche Reaktionen. Walter Momper z.B. sagte, eine Parteigründung in der DDR habe keinen Sinn, weil die SED die Macht habe und sie behalten werde.

Meckel: Für uns waren Einschätzungen wie diese übrigens gar nicht schlecht, weil damit dokumentiert wurde, dass wir keine Ferngründung aus dem Westen sind. Die Authentizität unserer eigenen Gründung war damit öffentlich belegt.

Gutzeit: Die SED sah natürlich eine Verschwörung der West-SPD, deren Ziel es war, die DDR zu sozialdemokratisieren. Aber die Initiative zur Gründung der SDP ist eben nicht aus dem Westen betrieben worden, sondern es war unsere höchsteigene Entscheidung, dies zu tun und wir haben dafür niemanden gefragt.


Gab es nach der offiziellen Gründung Angebote zur Aufbauhilfe?

Meckel: Eine Woche nach der Gründung war Steffen Reiche zu einem Verwandtenbesuch im Westen. Ihn hat Hans-Jochen Vogel mit in eine Sitzung des SPD-Präsidiums genommen. Das gab dem ganzen eine deutliche Tendenz in unsere Richtung. Bis dahin führte die SPD ja immer noch mit der SED Gespräche. Für uns war wichtig, deutlich zu machen, dass wir mit der Partei-Gründung den Anspruch erheben, die wirklichen Partner der SPD zu sein. Dabei unterstützten wir die Ost- und Entspannungspolitik. Jedoch musste der Unterschied zwischen Diktatoren und Demokraten deutlich bleiben. Wichtig war unser Aufnahmegesuch in die Sozialistische Internationale. Im Herbst besuchten uns dann Sozialdemokraten aus Schweden im Auftrag Willy Brandts.

Gutzeit: Vorher war schon Norbert Gansel auf eigene Verantwortung in die DDR gereist. Und am 24. Oktober trafen wir uns mit einigen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses in Berlin. Alles auf eigene Initiative und nicht auf Geheiß der SPD! Erst am 9. November hat dann Willy Brandt als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen eine Einladung zur Ratstagung in Genf geschickt.

Meckel: Innerhalb der Bundestagsfraktion gab es Differenzen, wie man sich uns gegenüber verhalten sollte. Man wusste nicht, wer wir sind und was unsere Hintergründe sind. Einige wollten auch nicht den Draht zur SED verlieren. Ab November kam es dann auch über vielfältige und dezentrale Kontakte auf der Ortsvereinsebene zur aktiven Hilfe im Osten.

Gutzeit: Diese Graswurzelsache hatte die Partei dann schon gar nicht mehr im Griff. Und zwei Tage nach dem Mauerfall kamen Hans-Jochen Vogel, Willy Brandt und Dietrich Stobbe nach Ostberlin und wir trafen uns im Albrechtshof am Bahnhof Friedrichstraße. Das zeigt, was sich hier innerhalb kürzester Zeit aufeinander zu bewegt hat.


Am 18. März 1990 folgten die Volkskammerwahlen, bei denen die Ost-SPD nur 21,7 Prozent der Stimmen bekam. Waren Sie damals enttäuscht?

Meckel: Zunächst muss man sich klar machen, warum es nach dem 9. November überhaupt noch einen Runden Tisch und freie Wahlen in der DDR geben musste. Gerade wir Sozialdemokraten sind vehement dafür eingetreten, dass die deutsche Einheit ein verhandelter Prozess sein muss. Dafür aber brauchte es Legitimation, und deshalb brauchte man die Wahl. Ein Problem für uns war sicher, dass sich die West-CDU nach großem anfänglichem Widerstand schließlich mit der Blockpartei Ost-CDU, der DSU und dem Demokratischen Aufbruch zur "Allianz für Deutschland" verband.

Gutzeit: Dadurch hatten sie in jeder Kreisstadt entsprechende Strukturen mit dem nötigen Geld und Personal. Bei uns mussten die Strukturen dagegen erst aufgebaut werden. In Schwante hatten 38 Personen die Gründungsurkunde unterschrieben. Nun traten wir landesweit bei der Volkskammerwahl an - und das, obwohl wir offiziell bis zum 7. Dezember 1989 noch illegal waren. Bei diesem prinzipiellen Strukturnachteil waren 21,7 Prozent ein ausgesprochen gutes Ergebnis. Noch viel entscheidender ist allerdings die Tatsache, dass es überhaupt zu einer freien Wahl und damit zu einem Plebiszit für die Demokratie kommen konnte. Ganz unabhängig vom Wahlergebnis ist das unsere größte Leistung.


Sie haben das strukturelle Defizit der Ost-SPD erwähnt. Ist dies zwanzig Jahre nach dem Mauerfall behoben?

Gutzeit: Die Sozialdemokratie im Osten Deutschlands war an der Wurzel ausgerottet. Über zwei Generationen wurden Sozialdemokraten in der DDR verfolgt, weil sie den Machtanspruch der SED in Frage stellten. Wenn das vorbei ist, legt man nicht einfach einen Schalter um und es läuft wieder wie vorher. Die Sozialdemokratie in Ostdeutschland wieder zu etablieren, ist eine große Aufgabe.

Meckel: Es gab damals eine falsche Hoffnung vieler, die glaubten, man könne so einfach auf der großen verschütteten Tradition der SPD in Sachsen und in Thüringen aufbauen. Andere glaubten, auch in der SED habe es eine der Sozialdemokratie verpflichtete Tradition gegeben. Wir hielten beides von Anfang an für einen Irrtum.


Welche Konsequenzen hatte das?

Meckel: Bis heute werden wir angegriffen, dass es ein Fehler gewesen sei, früheren SED-Mitgliedern die Mitgliedschaft in der SPD zu verwehren. Hier will ich festhalten, dass es in den ersten Monaten der Ost-SPD hierfür überhaupt keine Regelung gab. In dieser Zeit ist so manches ehemalige SED-Mitglied in die SDP eingetreten. Das war auch kein Problem, sondern wurde erst dann zu einem, als die Verleumdungskampagne der "Allianz für Deutschland" gegen uns begann. Daraufhin haben wir im Januar 1990 im Vorstand der Ost-SPD beschlossen, dass jedes neue Mitglied seine frühere politische Biographie transparent machen muss. Denn wir gingen davon aus, dass man jeweils vor Ort weiß, wie sich die Leute zu DDR-Zeiten verhalten haben. Als uns die infame Kampagne der CDU zunehmend zu schaffen machte, haben wir auf dem Parteitag in Leipzig im Februar 1990 ein Moratorium für die Aufnahme früherer SED-Mitglieder beschlossen - und am 9. Juni in Halle diese Regelung wieder aufgehoben. Von da an entschieden wieder die Ortsvereine über die Aufnahme. Manche waren dann allerdings schon sehr restriktiv. Aber dazu gab es keine Vorstandsbeschlüsse. Ich glaube bis heute, dass die Grundsatzentscheidungen, die wir damals getroffen haben, richtig und alternativlos waren.

Gutzeit: Wichtig ist, dass nicht der Parteivorstand die Türen zu gemacht hat. In manchen Ortsvereinen herrschte einfach die Angst, ehemalige SED-Mitglieder könnten die Gruppe übernehmen.


War diese Angst berechtigt?

Gutzeit: Natürlich. Man muss sich unsere minimalen Strukturen vom Anfang ansehen. Und als klar war, dass die SED am Ende war, hat der eine oder andere darüber nachgedacht, wie er am besten davon kommen könnte.

Meckel: Oft wird uns vorgeworfen, ein kleinlicher Moralismus habe uns geleitet oder wir als Opfer hätten es nicht verkraftet, mit den anderen zu reden. Das ist alles Quatsch. Es hat sich vielmehr um eine strategische Entscheidung im Parteiaufbau gehandelt.


Rückblickend betrachtet: Was ist das Vermächtnis der Friedlichen Revolution für die deutsche Sozialdemokratie?

Meckel: Der Anteil der Sozialdemokraten an der Friedlichen Revolution war ein ganz wesentlicher. Allerdings hat die SPD bis heute durchaus Schwierigkeiten, die Bedeutung dieser Parteigründung zu verstehen. Dabei bin ich überzeugt, dass sie zu den Sternstunden der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Demokratiegeschichte überhaupt gehört. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen sind jedoch nicht auf die Sozialdemokratie beschränkt, sondern Teil einer fehlenden Kommunikation und öffentlichen Debatte über diese Fragen in Deutschland insgesamt. Ich denke, dass wir den Prozess der Friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit aus den verschiedenen Perspektiven überhaupt neu diskutieren müssen.

Gutzeit: Wenn man sich die Geschehnisse von 1989 und 1990 und vor allem die Ausgangslage ansieht, sollt das Ergebnis 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution bei uns den Optimismus stärken, auch bei widrigen Bedingungen politisch anzutreten und den Sieg davon zu tragen.

Interview: Kai Doering

Zum 20-jährigen Jubiläum der SDP-Gründung hat der vorwärts einen Sonderdruck herausgebracht, der Faksimiledrucke sowie historische Dokumente zu 20 Jahren Sozialdemokratie in Ostdeutschland enthält. Er kann hier heruntergeladen werden.

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