Inland

Ehrenamt: Warum Freiwillige keine Lückenbüßer sind

Das freiwillige Ehrenamt erlebt einen Aufschwung, auch weil sich viele Menschen in der Flüchtlingshilfe engagieren. Sie wollen nicht nur helfen, sondern auch mitgestalten. Ein Gespräch über die Bedürfnisse von Ehrenamtlichen mit der Spitze der AWO Berlin
von Vera Rosigkeit · 17. Februar 2016
Seit November hat die AWO Berlin mit Ute Kumpf und Barbara König ein weibliches Führungsduo
Seit November hat die AWO Berlin mit Ute Kumpf und Barbara König ein weibliches Führungsduo

Frau Kumpf, Frau König, mit Ihnen hat die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Berlin seit November letzten Jahres erstmals ein weibliches Führungsduo. Was haben Sie sich vorgenommen?

Ute Kumpf: Die AWO ist fast hundert Jahre alt und hat oft ein etwas verstaubtes Image. Für mich ist es wichtig, dass wir moderner werden und die Vielfalt der Arbeiterwohlfahrt zum Ausdruck kommt. Wir sind einerseits Mitgliederverband, andererseits auch politischer Spitzenverband. Wir sind aber auch Anbieter von sozialen Dienstleistungen, ein soziales Unternehmen. Das ist ein schwieriger Dreiklang, den wir zusammenbringen müssen. Vieles, was wir machen und anbieten, ist gar nicht bekannt.

Barbara König: Das stimmt. Die AWO hat tolle Kitaprojekte und ist Hauptanbieter im freiwilligen sozialen Jahr und bei den Bundesfreiwilligendiensten. Das wir nicht ausreichend wahrgenommen. Wo die AWO derzeit sehr positiv wahrgenommen wird, ist beim Thema Flüchtlinge. Die Erstaufnahmeeinrichtungen und die Arbeit dort werden wertgeschätzt. Wir haben eine Freiwilligenagentur „ExChange“, wo Leute, die sich kurzfristig engagieren wollen, einen einfachen Zugang finden.

Kumpf: Über „ExChange“ haben sich die Freiwilligen fast verdoppelt. Viele, auch die neu dazu kommen, wollen sich konkret in der Flüchtlingshilfe engagieren. 70 Prozent davon sind Frauen.

Sind es vorwiegend Frauen, die sich ehrenamtlich engagieren?

Kumpf: Wir haben insgesamt rund 6.200 Mitglieder. Davon sind 3.800 Frauen und 2.600 Männer. Die sind überwiegend auch älter. Wir konnten jetzt auch neue, also jüngere Mitglieder im Alter zwischen 30 und 50 gewinnen.

Sind nicht gerade Frauen dieser Altersgruppe besonders eingespannt, weil sie Familie und Beruf unter einen Hut kriegen müssen?

Kumpf: Die Frauen, die sich in der AWO engagiert haben, waren ja nie nur Hausfrauen, sondern immer auch berufstätig. Das unterscheidet uns von den kirchlichen oder bürgerlichen Organisationen. Und wenn wir auf die Zahlen des Freiwilligensurvey schauen, wissen wir, dass genau die, die viel Belastung haben und entsprechend eingespannt sind, sich auch dieses ehrenamtliche Engagement leisten. Sie tun es in der Kita. Sie tun es bei Elternbeiräten und in der Schule. Überhaupt machen Frauen lieber gerne etwas, als nur eine Funktion zu übernehmen. Die Funktion erfordert ja auch diese Präsenzkultur.

König: Berufstätige Frauen mit Kindern fragen als erstes: Wann sind die Sitzungszeiten? Wie lange dauert das? Darauf müssen wir uns als AWO mehr ausrichten. Da geht es um Zeitmanagement. Wir brauchen auch modernere, digitale Arbeitsformen, nicht nur face-to-face Sitzungen.

Kumpf: Aber es gibt eben auch das Bedürfnis der Mitglieder, die sich hier begegnen wollen. Die muss ich, wie es so schön heißt, mitnehmen. Sie sind das Rückgrat der AWO. Gleichzeitig muss ich aber auch ein Angebot schaffen für junge Frauen und Männer, die sagen, ich will mich auf ein Projekt einlassen. Wie zum Beispiel das Projekt Wundertüte. Hier begleiten Ehrenamtliche Kinder, die sozial benachteiligt sind in der Schule, sammeln Materialien und organisieren Nachhilfe. Da sagen die Jüngeren, das finde ich gut.

Lassen sich so auch jüngere Leute ansprechen, aktiv zu werden?

Kumpf: Ich rede immer für die Jungen. Die sind aktiv. Gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung sind sie proportional genauso aktiv wie die Älteren. Das muss man einfach einmal wahrnehmen. Die Jungen wollen sich engagieren und auch wirklich etwas tun.

König: Sie sind auch in unserem Jugendwerk aktiv. Die Altersgrenze liegt bei 30 Jahren. Von da aus müssen wir eine Brücke organisieren in den AWO-Verband oder in Projekte, die Menschen ab 30 übernehmen wollen. Wir überlegen zum Beispiel, ob wir Schnuppermitgliedschaften einführen, damit die, die freiwillig etwas leisten, nicht auch noch Mitgliedsbeitrag zahlen müssen, wenn sie AWO-Mitglied werden wollen.

Mit Blick auf das Engagement bei den Flüchtlingen stellt sich die Frage: Wie würde eine Gesellschaft ohne ehrenamtliches Engagement aussehen?

Kumpf: Es wäre eine arme Gesellschaft und sie wäre ziemlich blutleer. Es gibt insgesamt rund 23 Millionen Menschen, die sich in irgendeiner Form in der Bundesrepublik freiwillig engagieren.

König: Es geht ja nicht nur ums Engagement, sondern auch um Teilhabe. Viele Menschen, die sich engagieren, wollen dadurch mitgestalten. Es ist ein Grundwert der Arbeiterwohlfahrt, demokratische Mitbestimmung und Beteiligung zu organisieren.

Kumpf: Ehrenamtliches Engagement braucht aber auch mehr Unterstützung. Die Leute laufen ins Leere, wenn sie auch noch organisieren müssen. Für diese Unterstützung sorgen die Hauptamtlichen: sie leisten den Service, sie coachen oder organisieren Supervision. Wenn da die Politik nicht die Rahmenbedingungen bereitstellt, wird es schwierig. Unsere Freiwilligen sind nicht die Lückenbüßer! Und die Leute merken, wenn sie ausgenutzt werden.

Welche Ansprüche erwachsen daraus an eine Politik, die das ehrenamtliche Engagement und damit Verbände wie die AWO unterstützen will?

Kumpf: Nehmen wir das Projekt Exchange. Die Hauptamtlichen, die diese Freiwilligenagentur betreiben, müssen gleichzeitig auch entscheiden, ob das verantwortungsvolle Leute sind, die sie vermitteln. Man kann ja nicht einfach Irgendwen zum Beispiel auf kleine Kinder loslassen. Und die Freiwilligen brauchen Fortbildungen oder vielleicht eine Supervision. Deshalb muss Politik dafür sorgen, dass die Infrastruktur auf Dauer finanziert wird.

König: Ein anderes Beispiel sind die Aufwandsentschädigungen, die wir für Ehrenamtliche leisten. Da tauchen immer wieder Probleme mit Besteuerung und der Abgabe von Sozialversicherungsbeiträgen auf. Das ist eine Hürde und wirkt abschreckend. Da muss dringend politisch etwas passieren.

Kumpf: Die Politik – und auch wir als AWO – sollten das freiwillige Engagement aufwerten, nicht bestrafen!

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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