Diskussion mit Kevin Kühnert: Warum wir Gerechtigkeit neu denken müssen
„Schon zum Zeitpunkt der Geburt ist keine soziale Gerechtigkeit gegeben. Der Wohnort, das Geschlecht oder die Hautfarbe sind ausschlaggebend für den weiteren Verlauf des Lebens“, sagt Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos. Aus diesem Grund seien die ersten 18 Lebensjahre eines deutschen Kindes bereits extrem ungleich. „Wir haben keine per Definition gerechte Gesellschaft. Wir hätten zwar die materiellen Möglichkeiten, um den Staat gerechter zu machen, aber diese haben wir schon lange nicht mehr für den Ausbau der Gerechtigkeit benutzt.“, prangert Kühnert bei einem Podiumsgespräch der Friedrich-Ebert-Stiftung an.
Kühnerts Definition einer gleichen und gerechten Gesellschaft sieht er als gegeben, „wenn alle Menschen eines Landes dieselben Möglichkeiten haben und gleich an Rechten sind“. Um Deutschland gerechter zu machen, wirft er einen Vorschlag ein: „Wenn soziale Herkunft der entscheidende Faktor für Ungerechtigkeit ist, dann ist der Hebel, der betätigt werden muss, die Erbschaftssteuer.“ Damit, so Kühnert, seien die Verhältnisse zwischen Arm und Reich viel ausgeglichener. Doch Unternehmen fühlten sich durch Steuererhöhungen angegriffen und drohten, in andere Länder abzuwandern. Dazu meint Kühnert: „Die Politik fühlt tiefe Dankbarkeit den Unternehmen gegenüber, weil sie Arbeitsplätze schaffen. Mir ist aber nicht eingängig, warum wir uns auf diese Art und Weise an der Nase herumführen lassen.“
In Ungerechtigkeiten hineingeboren werden
Stefan Gosepath, Philosophie-Professor, beschäftigt sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit oft mit Ungleichheiten und stößt dabei immer wieder auf vererbte „Ungerechtigkeiten, welche durch unverdiente soziale Begebenheiten entstehen. Das Elternhaus ist immer noch bestimmender Faktor für den Berufsweg der Kinder.“ Katja Urbatsch, Gründerin der Initiative „ArbeiterKind.de“, stimmt zu: „Beziehen die Eltern Hartz IV, können die Kinder mit großer Sicherheit auch trotz BAföG nicht studieren, weil sie zunächst in Vorkasse gehen müssten.“
Sie hält Deutschland also vor allem bei der Bildung für unfair: „Arbeiterkindern wird es sehr schwer gemacht, eine akademische Laufbahn einzuschlagen.“ Doch viele sehen die Ungerechtigkeiten nicht. „Kinder aus privilegierten Familien können die Probleme von Arbeiterkindern an der Universität oft nicht nachvollziehen. Hier brauchen wir einen Perspektivenwechsel“, fordert Urbatsch.
Die Rolle der Leistungsgerechtigkeit
Einen Perspektivenwechsel könne man auch gebrauchen, wenn es um das Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit geht: „Gleich ist nicht unbedingt gerecht. Es sollte aber immer gleich verteilt werden, solange es keinen ersichtlichen Grund gibt, ungleich zu verteilen“, sagt Gosemoth. Einen ersichtlichen Grund zur ungleichen Verteilung liege vor, wenn sich jemand durch höhere Leistung einen größeren Anteil verdiene, oder wenn jemand aufgrund irgendwelcher Einschränkung mehr brauche, aber nicht mehr leisten könne. Damit spricht Gosemoth die Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit an.
Mit dem Wort Leistungsgerechtigkeit, so Gosemoth, „wurde in der Öffentlichkeit viel Schindluder betrieben“. Es sei schwierig, Leistung in Deutschland zu definieren: „Liegen denn überhaupt Kriterien für Leistung vor? Hohe Bezahlung eines gut aussehenden Models halte ich beispielsweise nicht für leistungsgerecht.“
„Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit gehören zusammen“, wirft Kühnert ein. „Es war ein Fehler, in den 2000er Jahren die Bedarfsgerechtigkeit außer Acht zu lassen.“ Diesen Fehler wolle die SPD jetzt durch die Respektrente korrigieren, indem menschenunwürdige Kürzungen nicht mehr vorgenommen werden. „In Deutschland wurde man lange an seiner Produktivität gemessen. Diese Position halte ich für extrem neoliberal. Stattdessen sollte man das Recht haben, existieren zu können.“
Leistungsgerechtigkeit und Lohn
„Die Leistungsgerechtigkeit hat sich zu lange an der Erwerbstätigkeit orientiert“, stellt Kühnert fest, „doch ist das Abbild von Leistung über den Lohn wirklich der Weisheit letzter Schluss?“ Kühnert verweist auf Ehrenamtliche und Mütter in der Kindererziehung, die keinen Lohn bekommen, aber trotzdem etwas leisten. Zum Thema Leistungsgerechtigkeit gibt Gosepath zu bedenken, dass man momentan „das meiste Geld verdient, wenn man das Geld für sich arbeiten lässt. Somit ist Geld ein unheimlich großer Machtfaktor.“ Ein hoher Lohn sei also kein Indikator dafür, dass man viel geleistet habe, sondern einfach Glück.
Gerechtigkeit international
Glück spielt auch eine Rolle, wenn es darum geht in welchem Land man geboren ist. Man könne sich noch glücklich schätzen, in Deutschland zu leben, meint Gosepath. Das Leben in anderen Regionen dieser Welt könnte noch schlimmer sein. Deshalb sei es wichtig, „bedürftigen Menschen in Deutschland, aber gleichzeitig auch Menschen im globalen Süden zu helfen“. Da sieht Gosepath ein Problem, denn viele Menschen, die in Deutschland ungerecht behandelt werden, suchten sich „Rückhalt in nationaler Abschottung“, indem sie rechtspopulistische Partien wählten. Kühnert spricht hier vom „sozialen Frieden, der nur hergestellt werden kann, wenn niemand Not und Hunger leidet“. Deshalb müsse der Gerechtigkeitsbegriff neu gedacht werden.
studiert Sozialwissenschaften und war im Frühjahr 2019 Praktikantin beim vorwärts-Verlag.