Inland

Digitalisierung der Schulen: „Es ist wichtig, die Lehramtsausbildung mitzudenken“

Bildungschancen sind in Deutschland ungleich verteilt. Bei der notwendigen Digitalisierung ist es wichtig, die Lehramtsausbildung mitzudenken, sagt die Pädagogik-Professorin Rita Nikolai. Für gute Schulen ist aber auch ein starker Sozialstaat wichtig.
von Vera Rosigkeit · 7. Oktober 2020

In „Du bleibst was du bist“ erzählt Journalist Marco Maurer 2015, dass ihn drei Zahlen zum Schreiben seines Buches animiert haben:100. 77. 23. Von 100 Akademikerkindern machen 77 Abitur, von 100 Nicht-Akademikerkindern nur 23. Sind diese Zahlen weiterhin aktuell?

Von der Tendenz her schon. Kinder aus Akademikerfamilien finden sich weiterhin überproportional an den Hochschulen wieder, später auch in einer Promotion. Nicht-Akademikerkinder schaffen es weiterhin deutlich weniger an eine Hochschule.

Warum halten sich diese Ungleichheiten so hartnäckig?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ein Grund ist sicherlich, dass Familien in den sozial unteren Schichten nicht soviel Einflussmöglichkeiten haben, auch in den politischen Parteien nicht. Diese Familien haben keine Lobby.

Als es beispielsweise in Hamburg darum ging, eine längere gemeinsame Grundschulzeit für alle Kinder einzuführen, ist dieser Vorschlag bei einer Volksabstimmung an der Wahlurne gescheitert. Hier konnte sich insbesondere das Klientel aus dem bildungsnahen Milieu durchsetzen.

Die Verlängerung der gemeinsamen Grundschulzeit wäre demnach eine Möglichkeit, bessere schulische Voraussetzungen für Kinder aus Nicht-Akademikerkindern zu schaffen?

Aus internationalen Vergleichen wissen wir, dass ein Baustein für Bildungsungleichheiten die frühe Trennung der Kinder nach der vierten Klasse ist. Damit einher geht die Festlegung für die daran anschließenden verschiedenen Schulformen. Andere Länder in Europa, allen voran die skandinavischen, zeigen deutlich, wie ein gemeinsames längeres Lernen gelingen und alle Kinder gefördert werden können.

Es heißt, die Corona-Krise hätte die Ungleichheit nochmals verstärkt. Gibt es dazu schon Belege?

Derzeit gibt es noch keine breit angelegten Studien darüber, wie sich der Ausfall des Präsenzunterrichts ausgewirkt hat. Aber viele Lehrkräfte berichten, dass sie Kinder aus den bildungsferneren Milieus viel schwerer erreichen. Teilweise schon aufgrund mangelnder technischer Ausstattung ist es für diese Kinder schwer, an Lernprozessen teilzunehmen. Deutschland hat in den vergangenen Jahren die Digitalisierung verschlafen, das fällt uns jetzt auf die Füße. Auch da sind andere europäische Länder einfach weiter.

Womit muss die geplante Digitalisierung gekoppelt werden, damit hier keine Kinder angehängt werden?

Hier ist wichtig, die Lehramtsausbildung mitzudenken. Die Universitäten haben in den vergangenen Jahren mit Angeboten reagiert, wie Deutsch als Zweitsprache, dem Thema Inklusion und wie man Kinder mit besonderen Förderbedarf integrieren und Schule öffnen kann. Nehmen wir als Beispiel den binnendifferenzierten Unterricht. Lehrkräfte werden geschult, nicht nur den Mittelwert, sondern unterschiedliche Kompetenzen innerhalb einer Klasse zu berücksichtigen. Es geht darum, sowohl schwache Schüler*innen als auch leistungsstarke in den Blick zu nehmen. Das ist inzwischen Bestandteil der Lehramtsausbildung auch für die gymnasiale Oberstufe. In vielen Bundesländern ist inzwischen ein Praxissemester eingeführt worden. Zukünftige Lehrkräfte sind nicht wie früher nur für drei Wochen, sondern für ein halbes Jahr in der Schule tätig. So merken sie, ob das überhaupt der Beruf ist, den sie machen wollen. Aber man darf auch nicht nur darauf vertrauen, dass Schule es alleine schafft, es braucht auch Unterstützung vom Sozialstaat.

Woran denken Sie dabei?

Es spielt immer mehr eine Rolle, wo Kinder wohnen. In sogenannten Problemvierteln wird es in der Schule vor Ort Schwierigkeiten geben, eine Durchmischung der sozialen Struktur der Schüler*innen zu bekommen. Die aber ist sehr wichtig, um alle Kinder zu fördern.

Was kann der Sozialstaat tun?

Verhindern, dass ein segregierter Wohnungsmarkt Stadtteile in gute und schlechte aufteilt. Denn dann kommt es zu einem sozial sehr einseitigen Schüler*innenklientel. Wenn sich beispielsweise bildungsnahe Eltern zunehmend vom öffentlichen Bildungssystem verabschieden, gerade auch im Grundschulbereich, wird es schwierig. Man kennt diese Entwicklung aus den USA und aus Großbritannien, in der Tendenz auch aus Berlin mittlerweile. Das ist ein Teufelskreis. Man sollte auf jeden Fall als Schulpolitiker*in versuchen, die öffentlichen Schulen unabhängig vom Stadtbezirk so stark zu machen, dass sich möglichst viele Eltern gewiss sein können, dass ihr Kind gut gefördert wird.

Im internationalen Vergleich gibt Deutschland relativ wenig aus für unsere Schulen. Auch hier hat die Corona-Krise wie ein Brennglas gewirkt. Es wurde nicht nur sichtbar, wie schlecht die Schulen technisch ausgestattet sind, sondern auch wie es um die Räumlichkeiten bestellt ist, allen voran Sanitär- oder Lüftungsanlagen. Man wird nicht drum herum kommen auch dafür Geld in die Hand zu nehmen. Andere Länder investieren deutlich mehr.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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