Die Vollkasko-Pflegeversicherung per Gesetz
Es ist noch nicht lange her, da musste Margot Zeh zum Frühstück 19 Tabletten schlucken. Die 78-Jährige hatte sich zwei Wirbel gebrochen. Nach mehreren Operationen hatte sich im Krankenhaus dann noch ein Keim bei ihr eingenistet. Nach der Rückkehr in ihre Wohnung konnte Margot Zeh kaum etwas selber machen. Die Kinder kümmerten sich zwar, konnten aber nicht rund um die Uhr bei ihr sein. Zum Glück hat Margot Zeh ein gutes Verhältnis zu ihrer Nachbarin. Sie wohnt nur eine Tür weiter. „Sie hat für mich gekocht und wenn ich auf die Toilette musste, habe ich das Telefon mitgenommen, um sie hinterher anzurufen, damit sie mir auf dem Weg zurück zum Bett hilft.“
Pflegeleistung ist nicht gleich Pflegeleistung
Margot Zeh erzählt die Geschichte, während ihr Schwester Gabi die Kompressionsstrümpfe anzieht. Es ist kurz nach acht am Morgen. Draußen ist der Berliner Himmel mit grauen Wolken verhangen. Schwester Gabi arbeitet für die Sozialstation der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Wedding. Sie leistet „Behandlungspflege“, wechselt Verbände, spritzt Insulin – Leistungen, die von der Krankenkasse bezahlt werden.
„Ich hätte gerne jemanden, der mir beim Waschen hilft“, sagt Margot Zeh. Eine solche Person müsste sie allerdings privat bezahlen. Um Leistungen aus der Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen, müsste Margot Zeh eine Pflegestufe zugeordnet werden. „Zweimal war jemand vom Medizinischen Dienst bei mir“, erzählt Zeh. Beide Male wurde festgestellt, dass sie nicht berechtigt sei, Leistungen aus der Pflegeversicherung in Anspruch zu nehmen.
Die Vollkasko-Pflegeversicherung
Im kommenden Jahr könnte sich das ändern. Am 1. Januar tritt ein neues Begutachtungsverfahren in Kraft, der Begriff der Pflegebedürftigkeit wird neu definiert, die Pflegestufen werden auf Pflegegrade umgestellt. Grundlage ist das zweite Pflegestärkungsgesetz, laut Karl Lauterbach „die größte Reform der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen“. Doch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Co-Vorsitzende der Perspektiv-AG „Neue Gerechtigkeit und Zukunft des Sozialstaats“ will mehr. „Wir müssen die Pflegeversicherung von einer Teilkasko- zu einer Vollkasko-Versicherung umbauen“, fordert er.
Um die Bürgerinnen und Bürger besser vor Pflegerisiken zu schützen, soll es für sie nach den Plänen der Perspektiv-AG künftig die Möglichkeit geben, die Beiträge zur Pflegeversicherung freiwillig auf eine Vollversicherung aufzustocken. Diese soll, ebenso wie die Krankenversicherung, künftig paritätisch finanziert werden: Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen also in gleicher Höhe in die Versicherung einbezahlen. „Damit können die Versicherten erstmals eine gesetzliche Pflegevollversicherung erlangen“, schwärmt Karl Lauterbach.
Wenn die Rente nicht für professionelle Pflege reicht
Wie nötig das ist, zeigt eine „Prognos“-Analyse im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, deren Ergebnisse Mitte Oktober vorgestellt wurden. Demnach reicht das Einkommen vieler Senioren nicht aus, um professionelle Pflege in Anspruch zu nehmen. 2013 mussten bundesweit 41 Prozent der Pflegebedürftigen zusätzlich zu ihrer Rente Sozialhilfe beantragen. Kostengünstige Pflege gehe oft zu Lasten des Pflegepersonals. Das Fazit vom Bertelsmann-Gesundheitsexperten Stefan Etgeton: „Noch fehlt eine Lösung, wie sich die Leistungen der Pflegeversicherung so weiterentwickeln lassen, dass Altenpflegekräfte leistungsgerecht bezahlt werden, ohne die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen zu überfordern.“ Noch.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.