„Die Tafel“ in Potsdam: Wo Armut sichtbar wird
Am Morgen, an dem das Statistische Bundesamt die Armutsgefährdungsquote für 2016 bekannt gibt, ist es in der Schopenhauer Straße in Potsdam noch ruhig. Im Hinterhof der Baptisten-Gemeinde ist die Potsdamer Tafel untergebracht. Um halb zehn sind schon einige Freiwillige dabei, unter einem Flachdach Kisten mit Gemüse und Bananen zu stapeln. Viereinhalb Stunden später sollen sie an Bedürftige verteilt werden. Dann wird es deutlich voller sein.
Millionäre und Essensspenden
„Deutschland geht es gut, aber es geht nicht allen Menschen in Deutschland gut“, betont SPD-Kanzlerkandidat bei fast jedem seiner Auftritte. In kaum einer deutschen Stadt wird das deutlicher als in Potsdam. Während sich die Innenstadt immer weiter herausputzt und sich Millionäre wie Moderator Günther Jauch oder Modedesigner Wolfgang Joop hier ansiedeln, sieht Imke Eisenblätter, wie die Zahl derjenigen steigt, die auf Essenspenden angewiesen sind.
„Die Potsdamer Tafel unterstützt pro Woche rund 1200 Menschen“, erzählt Eisenblätter. Sie leitet die Tafel in der brandenburgischen Landeshauptstadt. Von Dienstag bis Freitag werden hier Lebensmittel an diejenigen ausgegeben, die zuvor ihre Bedürftigkeit nachgewiesen haben: Hartz-IV-Empfänger, aber auch regulär Beschäftigte mit geringem Einkommen. Wer eine tiefe Nummer zieht, darf bereits um 14 Uhr kommen, wer eine hohe zieht, muss sich gedulden.
Wer helfen will, braucht Zeit
An diesem Morgen haben Eisenblätter und ihre Ehrenamtlichen Unterstützung aus der Politik bekommen. SPD-Bundestagskandidatin Manja Schüle hat eine blaue Schürze über ihr türkisfarbenes Kleid gezogen und sortiert Tomaten für die Ausgabe vor. Die Spenden kommen von rund 70 Geschäften rund um Potsdam. Am Vormittag kommt auch Ralf Stegner zu einem Besuch vorbei. „Meine Frau arbeitet ehrenamtlich bei der Tafel in Bordesholm“, erzählt der SPD-Vizevorsitzende.
„Wer uns hier unterstützt, braucht einen ganzen Tag Zeit“, sagt Imke Eisenblätter. Vorbereitung, Ausgabe, Aufräumen – all das sei mit einem Beruf nur schwer zu vereinbaren. Das Team ihrer rund 100 ehrenamtlichen Helfer bestehe zu einem großen Teil aus Rentnern. Die Ausgabestelle in der Baptistengemeinde hat die Stadt der Tafel für zehn Jahre kostenfrei zur Verfügung gestellt.
„Armut möchte niemand sehen“
Für die Kunden ist das Gelände ideal. Von der Straße ist die Ausgabe nicht einzusehen. „Niemand möchte gerne auf dem Präsentierteller stehen“, weiß Eisenblätter. Bei ihren Kunden sei „viel Scham im Spiel“. Umso mehr stört sie, dass Armut in der Gesellschaft ausgeblendet werde. „Armut möchte niemand sehen.“
So habe sich die Schule, deren Gelände an die Ausgabe der Tafel grenzt, beschwert, dass die Schüler an der Schlange der Kunden vorbeigehen müssten, um auf den Sportplatz zu gelangen. Eine Veränderung kam für Eisenblätter aber nicht infrage. „Ich habe stattdessen angeboten, zu einem Vortrag über unsere Arbeit in die Schule zu kommen.“
Wie Armut sichtbar wird
Schließlich seien auch immer mehr Kinder von Armut betroffen. „Ein Drittel unserer Kunden sind Kinder“, berichtet Imke Eisenblätter. „Inzwischen sehen wir auch, wenn Kinder arm sind“, sagt Manja Schüle, die Bundestagskandidatin. Zwar unterschieden sich Kinder aus armen Haushalten häufig nicht durch Äußerlichkeiten von ihren Mitschülern. „Aber an der schulischen Leistung sieht man sehr schnell, wenn ein Schüler jeden Morgen hungrig in die Schule geht.“ Deshalb sei es auch richtig, dass die SPD auf die kostenfreie Bildung dränge.
„Leider gibt es zu wenig Berührungspunkte zwischen Politik und Armut“, meint Imke Eisenblätter. Das sei für sie auch der Grund gewesen, sich kommunalpolitisch zu engagieren. Seit 2015 sitzt sie für die SPD im Rat der Stadt Potsdam. „Es tut der Politik gut zu hören, was ich tagtäglich erlebe“, ist Eisenblätter überzeugt.
Damit sich die Tafeln auch über Potsdam hinaus mehr politisches Gehör verschaffen, haben sie für die Bundestagswahl zum ersten Mal in ihrer gut 20-jährigen Geschichte Forderungen an die Parteien aufgestellt. Sie reichen von einer gerechteren Steuerpolitik bis hin zur Einführung eines Fachs „Ernährungsbildung“ in den Schulen. Zum Abschied überreicht Eisenblätter die Forderungen Ralf Stegner. Der meint: „Ich sehe viele Überschneidungen mit unserem Wahlprogramm.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.