Inland

Die neue Demokratie

von Igor Eidman · 22. September 2010
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Vor kurzem erklärte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, seine Kollegen hätten die Absicht, Grundgesetzänderungen anzuregen, um die Durchführung von gesamtdeutschen Volksentscheiden zu ermöglichen. Diese könnten der Klärung der wichtigsten politischen Fragen, solcher wie der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, dienen. Dadurch solle auch die Rolle des einfachen Bürgers im politischen Leben des Landes gestärkt werden. Gabriel wies darauf hin, dass die Einführung eines nationalen Referendums die einzige Möglichkeit für die deutsche Politik wäre, erhobenen Hauptes aus der Sackgasse, in die sie sich selbst manövriert habe, wieder herauszukommen.

Der Chef der Sozialdemokraten machte dabei auf das folgende Phänomen aufmerksam: Während die Teilnahme der Bürger an den traditionellen politischen Institutionen der repräsentativen Demokratie, wie den Wahlen und politischen Parteien unentwegt abnimmt, zeigt ein Blick ins Internet Diskussionsforen und Blogs en masse, die sowohl Eigeninitiative der Verfasser als auch einen äußerst hohen Grad an Politikbewusstsein in der Gesellschaft vermuten lassen.

Die Erklärung eines der einflussreichsten deutschen Politiker verdeutlicht, was immer offensichtlicher wird: Besonders in Krisenzeiten werden die Erweiterung und Weiterentwicklung der direkten Demokratie immer notwendiger und gefragter. Die schier grenzenlosen Möglichkeiten, die sich durch den neuen Entwicklungsstand der Informationstechnologien, allen voran des Internets, eröffnen, werden jedoch häufig außer Acht gelassen. Dabei ließe sich der Übergang zu einer direkten Demokratie technologisch unter den gegebenen Umständen immer leichter verwirklichen.

Besonders schnell könnte dieser Prozess im Zuge der Verbreitung von elektronischen Personalausweisen angetrieben werden (in Deutschland werden diese Dokumente bereits in diesem Herbst eingeführt). Die Existenz solcher Ausweise beseitigt das Hauptproblem der e-Demokratie - die Schwierigkeit der personellen Identifizierung der abstimmenden Personen. Außerdem gehen immer mehr Länder dazu über, Programme zur globalen "Internetisierung" der Bevölkerung ins Leben zu rufen (aktuellstes Beispiel hierfür - Australien). Und einige davon, wie z. B. Finnland haben bereits das Recht auf Internetzugang im Gesetz verankert. Die Sicherstellung eines globalen Zugangs zum World Wide Web ist gerade der Welttrend. Dies wird in naher Zukunft auch für Deutschland unvermeidlich sein. Solche Perspektiven würden zugleich auch das zweite denkbare Problem einer e-Demokratie aus der Welt räumen, nämlich die Existenz von Wählern, die keinen Internetzugang haben.

In meinem vorangegangenen Artikel habe ich davon berichtet, wie die direkte e-Demokratie im Rahmen der Arbeitsorganisation einer modernen politischen Partei verwirklicht werden kann (in der Zeit, die seit der Veröffentlichung des Artikels vergangen ist, gewann die tschechische Partei «Věci veřejné», die aktiv mit der e-Demokratie experimentiert, die Parlamentswahlen und zog in die Regierung ein). Im neuen Artikel gebe ich einen Überblick darüber, wie sie in Form einer internationalen Gesellschaftsbewegung (Initiative von unten) sowie im Prozess der Reformierung des politischen Systems eines Staates verwirklicht werden kann (Reformen von oben).

Direkte Demokratie: Initiative von unten

Im Jahre 2001 gehörten die Gründer der Internetplattform Wikipedia zu den ersten, die erkannt haben, was das Internet für ein gigantisches Potential bietet und dass durch die Zusammenarbeit ganzer Massen globale Aufgaben gelöst werden könnten. Und genau diese Erkenntnis war wohl auch die Ursache ihres phänomenalen Projekterfolges. Die heutige Internet-Community kann sich dabei viel anspruchsvollere Ziele setzen. Denn die Welt zu verändern - das ist für die Menschheit ein weitaus dynamischeres und bedeutenderes Ziel, als es die bloße Beschreibung und Erläuterung gewisser Aspekte ebendieser Welt, wie es bei Wikipedia der Fall ist, je sein könnte.

Es existiert die reale Möglichkeit, eine völlig neue Politische Wikipedia zu schaffen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts modernisierte die Enzyklopädie der französischen Aufklärer (Diderot, Rousseau, u.a.) das gesellschaftliche Bewusstsein radikal und bereitete dadurch den Übergang Europas von der feudalen Archaik zu einer modernen Demokratie vor. Die aktuelle Wikipedia ist nicht in der Lage die gleiche Rolle zu übernehmen, denn sie ist bewusst unpolitisch und entidiologisiert. Daher muss ein neues Projekt geschaffen werden, das in der Organisationsform der Wikipedia ähneln, zugleich aber als ein gesellschaftspolitisches Instrument Einfluss auf die Staatspolitik nehmen sollte.

Auf Grundlage direkter demokratischer Mitbestimmung werden die Nutzer in der Lage sein, eine Enzyklopädie der Reformen zu erarbeiten sowie ein politisches sozial-wirtschaftliches Systems abzubilden, welches dieses Land dringend benötigt. Die Mitgestalter einer solchen Politischen Wikipedia werden besonders motiviert sein, das von ihnen erschaffene Gesellschaftsbild auch in der Praxis umgesetzt zu wissen.

Die Artikel der Politischen Wikipedia stellen dabei ein einzigartiges modernes politisches Lexikon dar. Sie präsentieren eine in der Gesellschaft maßgebende Meinung und positionieren sich deutlich zu politisch relevanten und aktuellen Themen, u.a. zu politischen und sozialen Reformen, Antikrisenmaßnahmen, der Arbeit der Selbstverwaltungsorgane, Respektierung und Schutz der Menschenrechte, Entwicklung einer e-Demokratie, Copyright-Reformen, Migrationspolitik, Kampf gegen Korruption, Umweltverschmutzung, Einführung ressourcensparender Technologien, und vielen anderen. Im Gesamtergebnis wird eine solche Wikipedia in der Lage sein, die Arbeit der traditionellen gesetzgebenden und politischen Organe in allen ihren Tätigkeitsbereichen zu unterstützen und dabei ihren Erfolg zu vervielfachen.

Die Funktionsweise einer solchen Ressource ist ziemlich simpel. Für die gemeinsame Arbeit der Netzwerkteilnehmer an den Unterlagen soll eine Wiki-Engine eingesetzt werden, während strittige Fragen durch Abstimmungen auf demokratischem Wege eine Lösung finden. Artikel und Artikeländerungen werden in der Politischen Wikipedia nur dann publiziert, wenn sie die Zustimmung der Mehrheit erlangen. Jeder Abonnent erhält automatisch Leseempfehlungen zu Artikeln und Änderungen, auf Wunsch sogar mit jeweils der für den Abonnenten maßgeblichen Expertenrezension. Danach wird darüber abgestimmt, ob eine bestimmte Änderung notwendig ist. Die Finanzierung der Netzarbeit und deren Schutz vor anonymen Provokateuren kann durch eine namentliche Registrierungsgebühr der Teilnehmer gewährleistet werden.

Die Elektronische Bürgerversammlungen

Die Bildung von "Elektronischen Bürgerversammlungen" (im Weiteren EBV genannt) kann zum Hauptbestandteil der Entwicklung einer Internet-Demokratie auf staatlicher Ebene werden. Die Bürger, die sich zu einer solchen EBV vereinen, werden in der Lage sein, mit Hilfe der Internet-Ressourcen Gesetzgebungsfunktionen selbständig auszuführen sowie über die wichtigen Fragen selbständig zu entscheiden.

EBV werden auf der gleichen Ebene mit Gemeinde-, Regional- und Bundesbehörden arbeiten. Den Bürgern steht das Recht zu, an der Arbeit und den Entscheidungsprozessen der EBV aller drei Ebenen teilzunehmen. Dabei hat jeder die Möglichkeit, Gesetzesinitiativen vorzulegen, bei Diskussionen und Entscheidungsfindungen mitzuwirken, Projektlösungen und Projektänderungen vorzuschlagen und sich selbst als Kandidat für eine Expertenposition aufstellen zu lassen. Alle Vorschläge werden den Abonnenten zusammen mit Expertenrezensionen zugeschickt. Dabei bestimmen die Teilnehmer selbst, wessen Rezensionen sie erhalten wollen.

Die Teilnahme an Abstimmungen und die Bereitstellung von Informationen in einer EBV bedürfen einer Registrierung der Bürger, die nur unter ihrem eigenen Namen erfolgen kann. Alle Entscheidungen werden durch die einfache Mehrheit an Stimmen innerhalb vorher abgesprochener Fristen getroffen. Es besteht selbstverständlich die Möglichkeit, die gesamte Chronik vergangener Abstimmungen, an denen man teilgenommen hat, einzusehen. Dadurch kann der Prozess der Stimmvergabe kontrolliert und die zweifelsfreie Wertung und Berücksichtigung der eigenen Stimme gewährleistet werden.

Keiner kann aus dem EBV-Netzwerk verbannt werden, aber jeder verfügt über das Recht, nur die gewünschten Informationen zu erhalten. Artikelvorschläge und Kommentare, die einem persönlich unangenehm sind, können abbestellt werden, sodass unerwünschte Informationen die Teilnehmer einfach nicht mehr erreichen.

Moderatoren, deren Arbeit mit der EBV vertraglich geregelt ist, sind ausschließlich für technische Funktionen verantwortlich und können jederzeit durch eine Stimmenmehrheit der Teilnehmer von ihrem Posten entlassen werden.


Ein mögliches Übergangsszenario zu der direkten Internet-Demokratie

  • Verabschiedung einer Reihe von Verfassungsgesetzen über "Organe der direkten Demokratie (Elektronische Bürgerversammlungen (EBV))", die eine schrittweise Übernahme von Funktionen der Gemeindebehörden und der Staatsmacht ermöglichen".
  • Eröffnung von regionalen "Zentren der direkten Demokratie", die die Registrierung aller Bürger, die an den EBV teilnehmen möchten, ermöglichen und ihnen die individuellen IT-Ausweise sowie sämtliche Zugangsdaten für die Arbeit und die Abstimmungen in den Internet-Ressourcen der EBV zur Verfügung stellen.
  • Gewährleistung der Teilnahme aller Bürger an EBV, unabhängig davon, ob sie einen PC mit Internetzugang haben. Jeder Bürger kann sich zu jeder Zeit von seinem PC aus oder vom Computer aus einem nahe gelegenen "Zentrum der direkten Demokratie" in sein virtuelles Kabinett auf den Internet-Ressourcen von der EBV einloggen, um an Diskussionen teilzunehmen, abzustimmen, Diskussionsergebnisse auszudrucken, usw.
  • Übergabe eines Teils der Funktionen der gesetzgebenden Staatsorgane der entsprechenden Ebenen an die EBV. In der ersten Zeit werden sich die EBV nur den bedeutsamsten Fragen widmen. Im Laufe der Zeit können sich die EBV-Kompetenzen erweitern.
  • Im Endeffekt werden alle Funktionen der Gesetzesgebung konsequent an die neuen Institutionen der direkten Demokratie (EBV) übergeben; zuerst auf der lokalen Ebene der Gemeindebehörden und danach auf der Regional- sowie Bundesebene.
  • Ferner werden durch die EBV die Stellenbesetzungen in den Organen der ausführenden Gewalt im Rahmen eines Wettbewerbs ausgeschrieben. Dadurch werden Bürgermeister, Regierungsführer und Kanzler gewählt und auf vertraglicher Basis eingestellt. Es muss dabei eine Möglichkeit einer außerordentlichen und vorzeitigen Kündigung solcher Verträge geben, für den Fall, dass ein Beamter das Vertrauen und die Erwartungen der Bürger nicht erfüllt.

Eine Utopie? Jedes neue System begann mit Ideen, die von den Zeitgenossen als utopisch wahrgenommen wurden. Liberale Utopien von Aufklärern des 18. Jahrhunderts bildeten die westliche moderne Gesellschaft. Sozialistische Utopien, vor allem der Marxismus, wiesen die Richtung, die für die Gesellschaft nötig war, um einen Sozialstaat zu formen. Wie sich die Demokratie in Zukunft entwickelt, hängt von uns allen ab. "So seien Sie Realisten - verlangen Sie das Unmögliche!"

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Autor*in
Igor Eidman

Igor Eidman ist 1968 in Russland geboren worden. Nach der Ausbildung als Historiker hat er sich als Soziologe und Experte auf dem Gebiet der Internet-Soziologie und der Entwicklung von Sozialen Netzen (social Networks) einen Namen gemacht. Er ist Autor einer bekannten konzeptuellen Forschungsarbeit über theoretische Soziologie und soziale Geschichte. Der Titel lautet: "Der Durchbruch in die Zukunft. Soziologie der Internet-Revolution". In seinen Artikeln und Vorträgen analysiert er die soziale und politische Folgen der Internetentwicklung und der Entwicklung von sozialen Netzen. Ferner beschäftigt er sich auch mit der praktischen Verwirklichung von Projekten für politische Sozialnetze sowie für Konsum-Sozialnetze. Seit Mitte 2009 wohnt er in Deutschland in Leipzig.

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