Alle paar Tage ist der Boulevard der Königin Sofia in Athen gesperrt. Der Verkehr staut sich dann rund um den zentralen Syntagmaplatz, die Autofahrer hupen wütend, Motorräder fahren über den Gehweg und gegen die Einbahnstraßen und die beiden Polizisten, die den Verkehr regeln müssen, sind überfordert.
Der Grund dafür ist das Ministerium für Verwaltungsreform, das regelmäßig bestreikt wird. Öffentliche Angestellte aus den unterschiedlichen Bereichen des Staates ziehen vor dem Ministerium auf und machen ihrem Unmut lautstark Luft. Sie protestieren gegen die Pläne zur Entlassung von Staatsbediensteten, wie sie von der Troika aus EZB, Europäischer Kommission und dem Internationalen Währungsfond gefordert wird.
Diese Bilder werden dann in ganz Europa in den Nachrichtensendungen gezeigt und der Eindruck verfestigt sich, dass sich ein ganzes Volk gegen die Sparmaßnahmen erhebt und das Land kurz vor der Explosion steht.
Arbeiten unter miserablen Bedingungen
Dabei wird aber meist übersehen, dass das Leben nur wenige Schritte weiter seinen ganz normalen Gang geht. Im Rest Athens gehen die Bürgerinnen und Bürger ihrer Arbeit nach. Die Angestellten der Privatwirtschaft arbeiten unter miserablen Bedingungen und können sich einen Streik gar nicht erlauben, weil ihnen dann dieser Tag auf dem Gehaltszettel fehlt - ein Minus, das sich kaum einer mehr leisten kann.
Diese Arbeitnehmer sind längst von den massiven Einschnitten ins Arbeits- und Tarifrecht betroffen, sie arbeiten oft monatelang unbezahlt, leisten Überstunden und sind dennoch stets von der Kündigung bedroht oder der Umwandlung ihres Arbeitsplatzes in eine Teilzeitstelle.
Und wer sich in Athen ein wenig auskennt und weiß, wo die Anlaufstellen für Spenden, und Lebensmittelhilfen sind, wer sich einen Vormittag lang in eines der günstigen kleinen Cafés in Stadtteilen wie Pagkrati setzt, der sieht auch die „Unsichtbaren“. Das sind die ehemaligen Angehörigen der Mittelschicht, die inzwischen verarmt sind und versuchen müssen, ihren Lebensunterhalt durch Spenden der Stadt oder Unterstützung aus dem Familien- und Freundeskreis zu bestreiten.
Immer mehr „unsichtbare Neuarme“
Sie sind meist länger als ein Jahr arbeitslos, bekommen keinerlei Unterstützung mehr vom Staat und versuchen dennoch, den Anschein der Normalität aufrecht zu erhalten. Sie verlassen regelmäßig das Haus, gehen verstohlen zu den Solidaritätszentren der Stadt, wo sie Lebensmittel für die Woche und vielleicht eine Winterjacke erhalten und setzen sich dann in ein Café, wo sie einen griechischen Mokka für 1,20 € bestellen, der den ganzen Vormittag vor ihnen steht. Nur das dazu gehörige Wasser wird immer wieder aufgefüllt, so dass sie daran nippen können. In den Zeitungen werden sie entweder die „Neuarmen“ oder die „Heimlich Armen“ genannt, wobei beides zutrifft, ihre Armut ist ein neues Phänomen und sie versuchen sie unsichtbar zu machen.
Die in deutschen Medien immer wieder geführte Debatte über Entlassungen im Staatsdienst nimmt dieses mehrdimensionale Bild der griechischen Gesellschaft nicht wahr. Dabei geht es nur um die weitere Reduzierung von Angestellten im Öffentlichen Dienst, die gefordert wird, denn Griechenland muss sparen und darf sich keine zu teure Verwaltung leisten. Auf der anderen Seite wird das Argument angeführt, dass die Arbeitslosenquote von 26% schon viel zu hoch sei, der Staat dies nicht noch verschärfen dürfe und Griechenland daher mehr Zeit eingeräumt werden müsse, um diese Reformen durchzuführen.
Auch die Diskussion in Griechenland selbst ist von diesen beiden Positionen bestimmt. Immer wieder wird betont, dass sich die Zahl der öffentlichen Angestellten seit 2010 doch bereits um etwa 110.000 Personen reduziert habe. Entlassungen seien daher ungerecht, man müsse stattdessen andere Möglichkeiten für Sparmaßnahmen heranziehen.
Sparen alleine reicht nicht
Auch wenn dies auf den ersten Blick einleuchtend ist, leidet diese Diskussion an einem massiven Gerechtigkeitsdefizit. Denn die öffentlichen Angestellten in Griechenland genießen seit Jahrzehnten bessere Arbeitsbedingungen als die in der Privatwirtschaft Beschäftigten: sie werden besser bezahlt, sie haben mehr Urlaub, sie dürfen Elternzeit nehmen. Auch werden früher verrentet und es gibt kaum Formen der Evaluierung der Qualität ihrer Arbeit.
Das hat dazu geführt, dass die griechische Verwaltung nicht nur sehr teuer war, sondern auch extrem ineffektiv. Ein Besuch bei einer griechischen Behörde ist stets ein Lotteriespiel: Trifft man einen motivierten Beamten, ist man schnell mit seinem Anliegen durch, trifft man den Falschen, nimmt der Tag kafkaeske Züge an. Dies hat sich durch die Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre nicht verändert. Wer wollte es den Staatsbediensteten auch übel nehmen, dass sie ihre Arbeit, nun deutlich schlechter bezahlt, nicht auf Anhieb besser machen wollen.
Soziale Gerechtigkeit als Maßstab
Viele Beobachter fordern daher, dass die Diskussion unter anderen Vorzeichen geführt wird. Sie fordern eine wirkliche Reform des öffentlichen Dienstes, in dem Sinne, dass die Mitarbeiter evaluiert werden und dann dort eingesetzt werden, wo ihre Fähigkeiten am Besten zum Tragen kommen.
Sie fordern, dass korrupte Angestellte entlassen werden, womit auch die von der Troika geforderte Reduzierung auf Basis eines fairen Kriteriums erfüllt werden könnte. Und sie fordern, dass die Perspektive erweitert wird auf die Leisen und die Unsichtbaren der griechischen Gesellschaft. Diejenigen, die tagtäglich den Preis der Sparpolitik bezahlen, so dass gerechtere Arbeitsbedingungen im Privatsektor geschaffen werden können, sowie Arbeitsplätze und ein soziales Sicherungsnetz für Arbeitslose.
Dies wäre viel eher im Sinne der sozialen Gerechtigkeit, als zu verhindern, dass einige Staatsbedienstete entlassen werden. Dafür nehmen sie auch gerne in Kauf, dass es Staus im Athener Zentrum gibt.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in London. Zuvor leitete er das Büro der Stiftung in Athen und in Brüssel.