Inland

Die Lakaien des Kapitals

von Renan Demirkan · 6. September 2012

Belgien liegt doch in Deutschland, oder? fragte jüngst ein argloser, englischer Teenie ein deutsches Kamerateam. Und ich dachte mir: Es ist höchste Zeit für den Europaunterricht in allen Schulen der EU. Denn zu einem echten Europa gehört vor allem ein Bewusstsein über dieses kosmopolitische, 27-teilige Mosaik der Weltkulturen.

Aber genau das war nie gewollt. Es sollte ein schrankenloses Europa der Märkte werden. Sprich ein Zusammenschluss für Banken und Spekulanten, ein Bündnis der Wirtschaftsbosse für ihren zollfreien Handel. Das ging eine Weile gut, bis sie sich so sehr verzockt haben, dass es jetzt einigen, deutschen Bossen zuviel geworden ist. Hipp, Deichmann, Bosch und sogar SAP sagten vor zwei Tagen: Nein! zu ‚Boni als Unternehmenszweck’ – zu ‚kurzfristigem Denken’ und zu ‚Maßlosigkeit’.

Dass die Bosse öffentlich die Banken kritisieren, hat mich überrascht. Offensichtlich treibt sie die Angst, nicht groß genug zu sein, um nicht pleite gehen zu dürfen. Nicht überrascht hat mich dagegen die aktuelle Krise. Nicht weil Krisen unser Schicksal sind, wie die FAZ schrieb. Sondern weil Gier blind macht gegenüber den Realitäten. Wunderbar zu sehen in einer Grafikstudie der Princeton University zu 200 Jahre Kapitalismus.

Dieser europäische Bankengau war also abzusehen! Aber warum hat die Politik sie auch noch unterstützt mit Wahlsprüchen wie: ‚Sozial ist was Arbeit schafft’? Sich damit zum Lakaien des Kapitals angedient. Den Menschen als Kulturwesen eliminiert und zum abrufbereiten Tagelöhner entwürdigt?

Nun bestimmen die ganz Großen zügellos und unantastbar über die Köpfe der Politik hinweg: ‚Too big to fall’ erpresst die Regierungen nicht nur mit ‚Systemrelevanz’ sondern – und das ist der pure Zynismus: Die Großen sind sogar so groß, dass man sie nicht mehr zur Verantwortung ziehen könnte.

Euro: Währung der Ungleichheit

Und so sitzt die Politik brav im Brüsseler Epizentrum des Lobbyismus und kippt stündlich völkerrechtliche Vereinbarungen um. Die anschließende Begründung klingt wie hypnotisiert: Das sei ‚alternativlos’ und  bedeutet ‚mehr Europa’. Aber das ist eine Lüge. Dieses Brüsseleuropa ist zum kulturellen Grab unserer Kinder geworden, und der Euro zur Währung der Ungleichheit!

Die politischen Institutionen sind zu Wachs in den Händen der Finanzwelt geschrumpft. Und der Global Player hat direkten Zugriff auf sämtliche Entscheidungsträger vor Ort. Größer kann die Zentralisierung von Macht kaum sein! Dieses Brüsseleuropa ist der Ausverkauf der Demokratie und muss schleunigst beendet werden! Wir brauchen ein kosmopolitisches und solidarisches Europa und Bürgerräte

Der Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft Daniel Kahneman sagt: Europa wurde einseitig auf die Jagd nach dem Mehrwert geschickt und hat nun die Balance verloren. Ich glaube nicht, dass die Instrumentalisierung der Politik von der Politik selbst aufgehalten werden kann, denn ein Ertrinkender kann sich selbst nicht retten – schon gar nicht in Brüssel. Warum sonst ist der Libor nicht längst verboten worden? Warum gibt’s noch immer keine Zinsbegrenzung für Staatsdarlehen? Wieso sind die Märkte noch immer nicht reguliert? Der Fragenkatalog ließe sich endlos erweitern.

Brüssel: Abwesenheit von Politik und Humanität

Wir brauchen eine verpflichtende Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen. Wir brauchen unabhängige Bürgerrate in Brüssel und in den Länderparlamenten, die ähnlich wie Schöffen, ehrenamtlich und von der Arbeit freigestellt, die Demokratie und Gerechtigkeit in die Parlamente zurückbringen!

Das heutige Brüssel ist die steingewordene Abwesenheit von Politik und Humanität. Es ist die fleischgewordene Zentrale der Finanzmärkte, eine Art Guantanamo des Kapitals, mit dem Unterschied, dass hier nicht nur Moslems untergetaucht werden – sondern Alle – die ja gesagt haben zu diesem Roulette der Märkte! 

Bitte Gott vergib ihnen nicht! Denn sie wussten, was sie taten! Sie sind die falschen Europäer! Für sie ist es egal, wo Belgien oder Deutschland oder der Rest der Welt liegen! Für die Finanzwelt ist das Brüsseleuropa nur ein Geldautomat.

Und sie hat es geschafft, dass sich die Einkommen und Vermögen der Mitgliedsstaaten derart konzentriert haben, dass sämtliche Mittelschichten ausgehölt wurden und die sozial Schwachen völlig verarmt sind. Die Ungleichheit ist proportional zu den Gewinnen angewachsen und von Chancengleichheit kann schon lange keine Rede mehr sein. Das aber führt direkt in die wirtschaftliche Instabilität, was die deutschen Bosse zu beunruhigen beginnt. Und es löst massenhaften Identitätsverlust aus. Und die wertvollste Resource Mensch droht zu verelenden.

Und genau das würde ein solidarisches, kosmopolitisches Europa verhindern. Es würde die Chancengleichheit über alle Grenzen hinweg vergrößern. Wir müssen weg von diesem Brüsseleuropa und dem Nationenbashing. Wir müssen zurück in die 27 Länderparlamente, ein besseres Verständnis füreinander vorbereiten. Wir brauchen Bürgerräte zur Verstärkung der Demokratie, die die Entscheidungstransparenz bezeugen und so der Humanität wieder das Primat zurückgeben.

Denn erst wenn die Teenies nicht nur wissen wo Belgien liegt, sondern auch mitfühlen und teilhaben können an dem, was die Menschen dort bewegt, erst dann sind wir auf dem Weg zu einem echten und mehr Europa!

Schlagwörter
Autor*in
Renan Demirkan

(geb. 1955 in der Türkei) ist eine deutsche Schriftstellerin und Schauspielerin. Für die SPD war sie 2004 Mitglied der Bundesversammlung.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare