Inland

„Die Inzidenzen zeigen am besten, wo das Virus unterwegs ist.“

Künftig gilt der Hospitalisierungsindex als Maßstab für die Corona-Maßnahmen. Was er bedeutet und warum die Inzidenz weiterhin ein wichtiger Wert in der Pandemie bleibt, erklärt die Immunologin Christine Falk im Interview.
von Kai Doering · 19. November 2021
Die Zahl der Neuinfektionen ist zum allergrößten Teil auf Menschen zurückzuführen, die nicht geimpft sind, sagt die Immunologin Christine Falk.
Die Zahl der Neuinfektionen ist zum allergrößten Teil auf Menschen zurückzuführen, die nicht geimpft sind, sagt die Immunologin Christine Falk.

Am Donnerstag haben Bund und Länder neue Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie beschlossen. Reichen sie aus, um die vierte Welle zu brechen?

Das wird maßgeblich davon abhängen, ob die Menschen verstanden haben, dass wir alle nun handeln müssen – jetzt sofort - und sich an die Empfehlungen aus Politik und Wissenschaft halten. Sie müssen sich jetzt klarmachen, wo sie sich bewegen, ob sie Veranstaltungen besuchen und wie sie sich an Abstände und die AHA-plus-L-Regeln halten können. Besonders hoffe ich, dass sich diejenigen, die sich bisher nicht haben impfen lassen, einen Ruck geben und das schnell nachholen.

Die Politik will das Boostern deutlich erleichtern und dafür sorgen, dass bis Ende des Jahres möglichst viele Geimpfte ihre dritte Spritze erhalten. Welche Rolle spielt das im Kampf gegen die vierte Welle?

Der Booster ist ein ganz wichtiger Baustein, um nicht zu riskieren, dass der nachlassende Schutz bei den bereits Geimpften zu erhöhten Infektionszahlen führt. Die Booster-Impfungen sollen nicht nur zusätzliche Erkrankungen verhindern, sondern auch, dass das Virus weitergegeben wird. Noch wichtiger ist aber, dass die Menschen, die noch gar nicht geimpft sind, das nachholen, damit wir die Impflücke möglichst rasch schließen.

Die Corona-Zahlen liegen heute deutlich höher als vor einem Jahr – und das, obwohl fast 70 Prozent der Deutschen mittlerweile doppelt geimpft sind. Woran liegt das?

Die Zahl der Neuinfektionen ist zum allergrößten Teil auf Menschen zurückzuführen, die nicht geimpft sind, und zwar in allen Altersgruppen. Impfdurchbrüche sind der weitaus kleinere Teil. Der aktuelle Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts hat das erstmals auch grafisch aufbereitet. Dass die Zahlen in diesen Tagen deutlich über denen des Vorjahrs liegen, hat vor allem damit zu tun, dass wir sehr viel öffentliches Leben und damit Kontakte haben, während vor einem Jahr Gaststätten und Kultureinrichtungen deutschlandweit geschlossen waren. Dadurch stecken vor allem die Ungeimpften sich und andere sehr viel mehr an.

Die Politik richtet ihre Maßnahmen künftig an der Anzahl der neu in die Kliniken eingewiesenen Corona-Patienten, dem Hospitalisierungsindex, aus. Welche Rolle spielt die Inzidenz da überhaupt noch?

Aus einer Sicht eine ganz wichtige. Die Inzidenzen zeigen immer noch am besten, wo das Virus unterwegs ist. Damit sagt die Inzidenz zumindest indirekt, wie hoch meine individuelle Wahrscheinlichkeit ist, einer infizierten Person zu begegnen. Es gibt ja deutschlandweit enorme Unterschiede von einer Inzidenz deutlich unter 100 bis hin zu mehr als 1.000. Um zu wissen, wann weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und zum Schutz des Gesundheitssystems ergriffen werden müssen, ist dagegen der Hospitalisierungsindex eine ganz wichtige Größe, weil er angibt, wie viele der Infizierten auch eine ärztliche Versorgung brauchen.

Wie zuverlässig ist der Hospitalisierungsindex?

Der Index macht sehr deutlich, dass wir Kontakte beschränken müssen, damit sich das Virus nicht oder zumindest nicht so schnell verbreiten kann. Er ist aber auch psychologisch ein guter Marker, weil sich an ihm sehr gut ablesen lässt, wie viele Menschen wegen einer COVID-Erkrankung in die Klinik oder sogar auf die Intensivstation müssen. Das für manche sehr abstrakte Infektionsgeschehen wird so konkreter und nachvollziehbar. Für die Frage, wie ein Landkreis handelt, ist der Hospitalisierungsindex daher ein guter Maßstab. Zudem macht er deutlich, dass Corona keine Krankheit der Alten ist, wie manche immer noch behaupten. In den Krankenhäusern sind zunehmend leider auch junge Menschen, die sich infiziert haben.

Zurzeit liegt der Hospitalisierungsindex deutschlandweit bei 5,3. Der Höchstwert lag im vergangenen Jahr an Heiligabend bei mehr als 15. Trotzdem wird bereits jetzt gewarnt, das Gesundheitssystem werde bald zusammenbrechen, wenn nicht schnell etwas passiert. Wie kann das sein?

Alle Krankenhäuser mussten in den vergangenen Monaten Intensivbetten schließen, weil das hochspezialisierte Personal nicht mehr da ist. Es wurden nicht aktiv Betten abgebaut, aber die geschulten Pflegenden, die die Patienten im vergangenen Jahr noch betreut haben, haben in der Zwischenzeit den Beruf gewechselt. Deshalb stellen schon die niedrigeren Zahlen die Krankenhäuser vor riesige Herausforderungen. Einen Stand wie im letzten Jahr können wir uns nicht noch einmal „erlauben“. Viele vergessen zudem, dass die Intensivbetten nicht nur für Corona-Patienten zur Verfügung stehen. Es geht auch um Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Unfallopfer, die wir bald nicht mehr versorgen können.

Als Immunologin hatten Sie schon vor Corona intensiv mit dem Thema Impfen zu tun. Können Sie sagen, warum rund um das Impfen Verschwörungsmythen derart aus dem Boden sprießen?

Das könnte ein*e Medizinhistoriker*in sicher besser beantworten. Mein Eindruck ist, dass diese Mythen fatalerweise aus verschiedenen Richtungen kommen und durchaus etwas mit der bewegten Geschichte dieses Landes zu tun haben. Mit ihren regional sehr unterschiedlichen, meist tiefen Verwerfungen strahlen die Familiengeschichten bis in unsere heutige Zeit hinein und prägen sowohl die Solidarität, als auch das Vertrauen in Gesellschaft und Staat sehr unterschiedlich. Möglicherweise haben wir das, wie so vieles, als Faktor für die Pandemiebekämpfung unterschätzt. Deshalb müssen wir unbedingt alle gemeinsam daran arbeiten, diese Gesellschaft zusammenzuhalten – gerade auch für die Zeit nach der Pandemie.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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