Şenocaks Buch zeigt alle Stärken dieses Genres: Es ist eine sehr subjektive Auseinandersetzung mit Integrationsdebatten und Integrationspolitik, ohne den Anspruch auf ein Patentrezept zur Lösung altbekannter Probleme zu erheben oder Statistiken auszubreiten. Gerade die geistige Wendigkeit macht seine Argumentation so inspirierend. Der sprachliche Cocktail aus Pointen und Metaphern könnte dem Gedankenreichtum nicht angemessener sein.
Eines ist die "Aufklärungsschrift" nicht: polemisch. Von aggressiver Rhetorik hat Şenocak, was diese Thematik betrifft, genug - seinen Lesern dürfte es ähnlich gehen. Doch scheut er weder deutliche Worte noch Zuspitzungen. "Deutsche Intergrationsdebatten werden einmal als das bizarrste öffentliche Geschwätz in die Geschichte eingehen, das es je gegeben hat", heißt es gegen Ende. Eigentlich hätte das Statement ganz an den Anfang gehört, denn Şenocak geht es genau darum, diese Debatten zu enttarnen, zu erklären und zu überwinden.
Uniformes Deutschland
Stattdessen nähert er sich seinem harschen Urteil auf mehreren Pfaden: Zunächst schildert der Autor, wie er während der letzten vier Jahrzehnte den Wandel des Diskurses über Einwanderung und Einwanderer, vor allem aus muslimischen Ländern, erlebte. Den zunehmenden Drang der Mehrheitsbevölkerung zu einem homogenen Bild von sich selbst, den er, ebenso wie ein wachsendes Nationalgefühl, seit der Wiedervereinigung ausmacht, konfrontiert er mit Betrachtungen zur Befindlichkeit der Deutschen nach der Reichsgründung 1871.
Sein Fazit: Zwischen den Deutschen und den Zugewanderten besteht vor allem ein Kommunikationsproblem. Erstere finden nicht die richtigen Worte für Letztere. Einerseits berufen sie sich auf das geistige Erbe der europäischen Aufklärung, wenn sie Missstände in islamischen Communities anprangern. Indem sie jedoch alle Muslime in Deutschland kritisieren und individuelle Prägungen ausblenden, lassen sie den Gedanken der Toleranz vermissen, der gerade auf aufklärerische Denker zurückgeht.
Einwandern ins eigene Land
Erst die Rückbesinnung auf Neugier und Selbstkritik - in beiden sieht Şenocak die größten Errungenschaften der westlichen Zivilisation - macht eine Annäherung möglich. In den Worten des Autors:"Auch die Deutschen müssen in ihr eigenes Land einwandern, das sich in den letzten 50 Jahren stark verändert hat." Nur mit Aufgeschlossenheit sei zu erreichen, dass sich Einwanderer-Gruppen öffnen und womöglich eigene Defizite erkennen - anstatt sich nach pauschalisierenden Tiraden ins Schneckenhaus zu verkriechen.
Şenocak war immer mittendrin. 1961 in Ankara geboren, kam er mit seinen Eltern als Neunjähriger nach Deutschland. Seit den späten 70er-Jahren veröffentlichte der Sohn eines Verlegers und einer Lehrerin Gedichte, wenig später begann er, türkische Autoren ins Deutsche zu übersetzen. So steht sein Schaffen für das "Leben in zwei Welten", das er als Grundwesen der Migration begreift - und wofür er in Deutschland mehr Akzeptanz fordert. Gerade die wiederholte autobiografische Unterfütterung seiner Argumente macht diesen Text so eindringlich.
Aufklärung mit Lücken
Neben dem verklärten Ideal von der Aufklärung, so der Autor, ist auch das Bild der "Mehrheitsdeutschen" von sich selbst lückenhaft: Weil die mentalen Folgen von Weltkriegen, Völkermord und Vertreibung nie richtig aufgearbeitet wurden, plagt die Nachkommen eine partielle Amnesie. Wer Teile seines historischen Erbes tabuisiert, trägt einen emotionalen Defekt davon. Sich von der belastenden Vergangenheit seines Landes zu distanzieren, macht unfähig, wirkliche Nähe zu Angehörigen anderer Lebenswelten zu entwickeln. Weltoffenheit ist nahezu unmöglich, allenfalls dient sie als Fassade zur Abwehr der eigenen Geschichte.
Diese gebrochenen Identitäten suchen nach einer Identität ohne Brüche, können ihr diffuses Nationalgefühl aber nicht in Worte kleiden: "Das selbstvergessene Deutschland spricht gebrochen Deutsch." Was nicht in das herbeifantasierte Raster einer "Leitkultur" aus christlich-jüdischem Erbe, Klassik und Romantik passt, wird ausgegrenzt. Wie zum Beispiel Zuwanderer muslimischen Glaubens.
Mehr Zivilisation wagen
Abhilfe kann nur der Mut zur Verständigung schaffen.Die Grundlage dafür sieht Şenocak vor allem in der "Aneignung einer neuen Sprache, in der nicht Mission und Propaganda betrieben, sondern kommuniziert wird, die das Fremde nicht diffamiert, sondern übersetzt".
Unterm Strich geht es darum, in Deutschland mehr Zivilisation für alle zu wagen.
Nicht zuletzt die Deutlichkeit dieses humanistischen Appells, der anstelle auf Pathos auf pragmatischen Menschenverstand setzt, machen dieses Buch zu einer Ausnahmerscheinung in der reichen Migrations-Literatur. Sein undogmatischer Ansatz sollte helfen, ihm ein breites Publikum zu verschaffen.
Zafer Şenocak, "Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift", edition Körber-Stiftung, Hamburg 2011, 190 Seiten, 16 Euro, ISBN-10: 3896840835 Mehr Informationen zur Körber-Siftung unter www.koerber-stiftung.de