Dass der "vorwärts" das brisante Thema "Missstände in der Pflege" aufgreift, ist ein mutiger Schritt. Die Reaktionen darauf lassen erkennen, welche gesellschaftspolitische Brisanz in diesem
Thema steckt. Um ein menschenwürdiges Leben im Alter müssen wir Sozialdemokraten uns besonders kümmern. Ein vorsorgender Sozialstaat, den wir in unserem Grundsatzprogramm fordern, hat die Aufgabe,
Menschen vor entwürdigenden Lebensumständen zu bewahren.
Aber auch die Beschäftigten, die großartige, aufopferungsvolle Arbeit oft für wenig Geld leisten, müssen vor Profitgier, Unmenschlichkeit und Unsicherheit geschützt werden. So sehr auch
versucht wird, das Leben in einem Heim für pflegebedürftige Menschen durch Qualitätsmanagement und Kontrollen erträglich zu machen, durch den Umzug in ein Heim werden Menschen aus der Gesellschaft
ausgesondert. Um Unterstützung zu erhalten, sind sie mangels Alternativem gezwungen, ihre Wohnung, ihr Haus, ihre Nachbarschaft und oft auch ihre Gemeinde oder Stadt zu verlassen.
Mit stationärer Pflege lässt sich Geld verdienen
Viele Indizien, besonders das verstärkte Engagement von Fondsgesellschaften und ihrer hohen Rendite-Erwartung weisen darauf hin, dass sich mit Heimen viel Geld verdienen lässt. Die
Renditeerwartungen liegen zwischen 6 und 10 Prozent.
In der Zeitschrift "Cash" (3/2007) wurde berichtet, dass die Deutsche Capital Management AG (DCM) aus München einen Fonds mit Pflege-Immobilien aufgelegt hat. Den Vertrieb übernimmt die
Deutsche Bank . Diese hat im Oktober 2005 eine Untersuchung erstellt, ob sich das Geschäft mit Pflegeimmobilien lohnt. Ergebnis: Für Beteiligungen am DCM-Fonds werden laufende Ausschüttungen von
6-7 Prozent p.a. erwartet.
Ganz offen wird mit der Tatsache umgegangen, dass der Fonds nur in Pflegeheime investiert, die über die Soziale Pflegeversicherung gem. SGB XI finanziert werden. So kann der Investor sicher
sein, dass sein Investment durch Pflegeversicherung, Angehörige oder Sozialamt geschützt wird. So lange dieses System besteht, brauche man sich keine Sorgen um sein Geld zu machen, wirbt die DCM
AG. Die Gemeinschaft der Versicherten und der Steuerzahler tritt für den Schutz des Profits von Wenigen ein - ist das gerecht?
Einer der größten Wachstumsmärkte Deutschlands
Die HGA Capital Grundbesitz und Anlage GmbH stellte am 10. April 2008 fest: "Der Bereich der Altenpflege zählt vor dem Hintergrund der steigenden Pflegebedürftigkeit einer alternden
Bevölkerung zu einem der größten Wachstumsmärkte in Deutschland". Auszahlungen von ca. 6 Prozent p.a. sind die Regel bei den Investments des Immobilienfonds.
Die Berliner Zeitung berichtet über die Aktivitäten der Dussmann-Gruppe: "Der private Seniorenheimbetreiber Kursana befindet sich weiter auf Wachstumskurs. Das zur Berliner Dussmann-Gruppe
gehörende Unternehmen hat im Jahr 2006 einen Umsatz von 217 Millionen Euro gemacht und verbuchte damit eine Steigerung von 8,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr."
Im "Stern" (5/2008, S.114f) wird über den amerikanischen Investor Guy Wyser-Pratte berichtet. Zitat: "Der Markt ist attraktiv für Anleger, weil er überdurchschnittlich und stetig zulegt." Die
Rendite erreicht bis zu 10 Prozent. Wie ein Artikel im Spiegel (Heft 25/2007) zeigt, werden inzwischen auch kirchliche Krankenhäuser, Alters- und Pflegeheime radikal auf Wirtschaftlichkeit
getrimmt.
Sozialabgaben und Steuern sichern Renditen
Die Folgen dieser Entwicklung: Auf Kommunen und Länder kommen hohe Kosten zu, da sie für Heimbewohner in Form der Sozialhilfe eintreten müssen, wenn die eigenen finanziellen Mittel nicht
ausreichen oder keine Verwandtschaft herangezogen werden kann. Unsere überschuldeten Kommunen können sich Pflegehochburgen und Wohnheime aber nicht leisten, und sie bezahlen oft für schlechte
Pflege in Heimen. Diese Entwicklung hat nicht nur Kostenfolgen, sondern wirkt sich auch auf die Sozialstruktur der Kommunen aus. Wenn pflegebedürftige Menschen und Menschen mit Behinderung aus den
Gemeinden und Städten in Heime verbannt werden, geht den Kommunen ein wichtiger Teil der Gesellschaft verloren. Auch diese Menschen haben ein Recht auf ein Leben mitten unter uns und wollen nicht
in Einrichtungen abgeschoben werden.
Ambulante Pflege als Alternative?
Auch ambulante Pflege hat ihren Preis, die Ausgaben sind jedoch deutlich niedriger als im stationären Bereich. Während diese von 1997 bis 2004 um 31,19 Prozent stiegen, lag die
Ausgabensteigerung für ambulante Pflege im selben Zeitraum bei gerade einmal fünf Prozent. Wer im ambulanten Bereich schlechte Pflege leistet, dem wird rascher gekündigt, während sich im
stationären Bereich durch unzureichende Kontrollen und Verfestigung der institutionellen Strukturen seit Jahren Qualitätsmängel festsetzen.
In Unna undBielefeld wurde mit gezielter Wohnraumberatung älteren Menschen und Menschen mit Behinderung ermöglicht alternativ zum Heim ein Leben mitten in der Gemeinde zu führen. Anstatt in
den Bau von Heimen zu investieren, wurde eine umfassende Barrierefreiheit gefördert.
Fördern von sozialer Infrastruktur
Menschen haben so eine bessere Chance bei Pflegbedürftigkeit oder Behinderung selbst bestimmt wohnen zu können und eine Heimeinweisung zu vermeiden. Das kostet im Einzelfall mehr Geld,
rechnet sich für die Kommune aber langfristig. Mit der Förderung ambulanten Wohnens werden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Neben dem Teilhabeaspekt eröffnen sich durch die Belegung von
bisher freiem Wohnraum neue Möglichkeiten zur Gestaltung des gemeindenahen Raums.
Pflegebedürftige Menschen und Menschen mit Behinderung mitten in der Gesellschaft sind Mieter, Käufer, Arbeitgeber und somit auch ein wirtschaftlicher Faktor. Auch die Wohnungswirtschaft
reagiert hierauf bereits mit erfolgversprechenden Konzepten: gezielte Wohnraumberatung, Erhöhung der Sicherheit in der Wohnung, Förderung des barrierefreien Umbaus. So kann der Umzug in ein Heim
umgangen werden. Wenn dann auch noch die entsprechenden Dienstleistungen zur Verfügung stehen, muss unserer Überzeugung nach keiner mehr ins Heim.
Pflegestützpunkte verstärken Wettbewerb
Mit Unterstützung von Angehörigen und ambulanter Pflege können die Menschen den Einzug in ein Heim immer länger hinauszögern. Im Durchschnitt ziehen die Menschen mit 87 Jahren ins Heim und
leben dort noch etwa ein Jahr und drei Monate. Da es für ein Heim unrentabel ist, wenn Zimmer nicht belegt sind, besteht natürlich großes Interesse, Menschen für den Umzug in ein Heim zu gewinnen.
Die Pflegestützpunkte, die Ulla Schmidt gegen viele Widerstände durchgesetzt hat, verstärken den Wettbewerb. Die Pflegeberatung lenkt weg von den Interessen der Heimträger hin zu den Bedürfnissen
der Versicherten. Auch deswegen laufen die Heimträger gegen die Pflegestützpunkte Sturm und wollen beispielsweise in Sachsen-Anhalt alles so lassen wie es ist. Endlich wird ein Wettbewerb der
Qualität befördert und nicht länger eine Einrichtungsstruktur subventioniert, die nur aus Mangel an Alternativen besteht und stetig wächst.
Das Plus der Pflegereform
Die Pflegestützpunkte sind der wohl wichtigste Teil der Reform. Aber auch die längst überfällige wenn auch in der Höhe unbefriedigende Anhebung der Sachleistungsbeträge in der ambulanten
Pflege, die Erhöhung der Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz und die Dynamisierung der Leistungen gehören dazu. So kommt mehr Geld ins System. Wir hoffen, dass es den
Betroffenen zugute kommt und nicht in qualitativ schlechten Einrichtungen oder schlechter ambulanter Pflege versickert.
Begrüßenswert ist der Rechtsanspruch auf Pflegeberatung und das Fallmanagement vor Ort. Sie runden die Funktion des Pflegestützpunktes ab und sind deshalb gut und wichtig. Denn von der
Beratung über und der Vernetzung von Pflege- und Unterstützungsleistungen vor Ort hängt es ab, wie lange ein Mensch in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus verbleiben kann.
Von Vorteil ist auch die Stärkung des Entlassungsmanagements durch Case-Management Nach einem Krankenhausaufenthalt wird geprüft und beraten, wie der Mensch weiterhin selbstbestimmt zu Hause
leben kann. Wir begrüßen, dass mehr Qualität und Transparenz in Heimen beschlossen wurde, aber wir fordern, möglichst viele Alternativen zum Heim zu schaffen.
Wichtige Forderungen von der Union blockiert
Die Pflegeversicherung wird nicht Rehabilitationsträger - das bedauern wir außerordentlich, denn es würde einen ganz anderen Fokus auf die Pflege älterer Menschen legen. Rehabilitation
fordert immer die Förderung selbstbestimmter Teilhabe. Das wäre ein großer einschneidender Schritt gewesen, der aber in der Großen Koalition nicht möglich war. Die Union ist nicht mutig genug, die
Verbände der Menschen mit Behinderung und der Selbsthilfe einzubinden und Strukturen und Prozesse zu verändern. Sozialpolitik wird als Politik für die "weiße Weste" verstanden und orientiert sich
an der Verfestigung institutioneller Strukturen. Auch deshalb ist das Ergebnis im ambulanten Bereich nicht befriedigend, wenn es auch in die richtige Richtung geht.
Mehr ambulante Versorgungsmodelle erproben
Die Einschränkung von Freiheiten, wie beispielsweise die freie Wahl von Wohn- und Dienstleistungsanbietern, ist Merkmal stationärer Einrichtungen. Die Pflegereform sagt nicht klar, dass Heime
trotz der Qualitäts- und Transparenzverbesserungen Einrichtungen bleiben, in denen die Menschen von der Gesellschaft und der Teilhabe ausgeschlossen sind. Dahingehend gibt es bei der Pflegereform
außer bei den genannten Punkten leider keine deutliche Abkehr von der stationären Versorgung bei gleichzeitig vorrangiger Stärkung der ambulanten Versorgung.
Die Pflegestützpunkte liegen nun in der Hand der Länder. Zu befürchten ist, dass sie in einigen Bundesländern entweder politisch blockiert werden oder es zu einem Wildwuchs der Beratung zu
Lasten der pflegebedürftigen Menschen kommt. Auch das ist ein Ergebnis der Lobbyarbeit von Heimträgern unter dem politischen Banner der Union. Die verbindliche Einführung eines revolutionären
Strukturelements wurde in letzter Minute von diesen Akteuren aufgeweicht und verhindert.
Hilfe zu den Menschen bringen
Es sollte mehr Möglichkeiten geben, ambulante Versorgungsmodelle anzuwenden und zu erproben, damit Menschen ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zu Hause leben und sterben können.
"Ambulant statt stationär" kann und muss mehr mit systematischen Reformen untermauert werden, damit die Hilfe zu den Menschen kommt, wann immer sie diese brauchen. Es ist doch widersinnig, dass die
Menschen dorthin umziehen müssen, wo sie Hilfe erhalten, statt dass die Hilfe zu ihnen gebracht wird. Viel Hoffnung setzen wir daher in die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die den
Teilhabeaspekt stärken soll, in dem Sie rehabilitative und präventive Bedarfe in das Begutachtungsinstrument integriert.
Mehr zur Bundesinitiative
http://www.bundesinitiative-daheim-statt-heim.de/
Foto: pixelio.de
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.