Inland

DGB-Chef: Arbeit der Zukunft braucht starke Mitbestimmung

Immer erreichbar, egal wo? Die veränderte Arbeitswelt braucht neue Formen der Regulierung und mehr offensive Mitbestimmung, sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann im Interview. Denn in mitbestimmten Unternehmen sind die Arbeitsbedingungen besser und die Löhne höher. Auch Crowdworker müssen eingebunden werden.
von Vera Rosigkeit · 30. April 2015
placeholder

Herr Hoffmann, unsere Arbeitswelt befindet sich im Umbruch. Wie bereitet sich der DGB auf die Veränderungen vor?

Die technologischen Innovationen in Industrie, aber auch im Dienstleistungsbereich haben enorme Auswirkungen auf zukünftige Arbeitsprozesse. Das, was unter Digitalisierung oder Smart Services läuft, scheint sich dabei evolutionär zu entwickeln und nicht in großen Sprüngen zu kommen. Damit stellen sich zentrale Fragen: Welche neuen Qualifikationsanforderungen und Kompetenzen werden von Beschäftigten gefordert? Wird die Entwicklung eher zu Dequalifizierung führen oder zu höherwertigen Tätigkeiten mit entsprechendem Qualifikationsaufbau?
 
Wie ist Ihre Einschätzung?

Ich denke, es muss keine Dequalifizierung bedeuten. Das ist kein Automatismus. Allerdings müssen wir die Veränderungen gestalten. Dazu brauchen wir erweiterte Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte. Wer solche  Technologien einführt, muss  frühzeitig arbeitswissenschaftliche Aspekte berücksichtigen, zum Beispiel bei der Arbeitszeitgestaltung. Wir als Gewerkschaften sind gut beraten, uns früh offensiv zu positionieren.
 
Passiert das denn schon?
 

In allen Gliederungen der Gewerkschaften wird diskutiert und es gibt Arbeitskreise, die sich fragen, was getan werden muss, um die Arbeitsgestaltung zu verbessern. Denn wir sehen auch Risiken, wie beispielsweise eine zunehmende Arbeitsverdichtung, die mit psychischen Belastungen einhergehen kann.
Auch andere Belastungsfaktoren haben sich verändert: Zum Beispiel lösen sich  Zeitstrukturen auf, wenn Beschäftigte ständig erreichbar sind. Es findet derzeit eine zeitliche, aber auch eine räumliche und eine funktionale Entgrenzung statt. Wir überlegen erste Ansätze, dem zu begegnen, etwa mit einem Recht auf Time off, also ein Recht auf Nichterreichbarkeit.
 
Erreicht man damit auch Crowdworker?
 

Crowdworking ist ein Beispiel für räumliche Entgrenzung, weil die Auftragnehmer nicht an ein Büro oder eine betriebliche Arbeitsstätte gebunden sind, und die Vergabe global organisiert werden kann.
Die Frage ist: Wie bekommen wir diese Crowdworker oder Clickworker eingebunden in betriebliche Interessenvertretungsstrukturen, damit sie ihre Arbeitszeit besser gestalten können? Damit Crowdworker eben nicht an sieben Tagen die Woche 24 Stunden erreichbar sein müssen, sondern geregelte Arbeitszeiten haben. Sie müssen auch in die Systeme der sozialen Sicherung einbezogen werden. Wir wollen nicht, dass über schlecht bezahlte Solo-Selbständigkeit eine Art digitales Prekariat entsteht. Das setzt anspruchsvolle neue Formen von Regulierung voraus und mehr offensive Mitbestimmung.
 
Sind denn erweiterte Mitbestimmungsrechte so einfach durchzusetzen?

Mitbestimmungsrechte waren noch nie einfach durchzusetzen. Aber wir müssen in die offensive Mitbestimmung gehen, weil wir sehen, dass wir mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind. Im Koalitionsvertrag sehe ich nur mitbestimmungspolitischen Stillstand. Zugleich hat insbesondere auch die CDU die Mitbestimmung ja wieder schätzen gelernt, weil wir mit kompetenten Betriebsräten, Personalräten, Mitbestimmungsträgern in Aufsichtsräten doch erheblich dazu beigetragen haben, massive Beschäftigungseinbrüche während der Krise zu vermeiden.
Das heißt, es gibt einen neuen Respekt auch im Arbeitgeberlager. Aber dieser Respekt geht nicht so weit, sich dafür zu öffnen, die neuen Herausforderungen mit einer starken Mitbestimmung zu gestalten. Da schreckt man nach wie vor zurück.
 
Brauchen Gewerkschaften neue Organisationsformen?

Selbstverständlich müssen wir uns auch darüber verständigen, wie Gewerkschaften der Zukunft aufgestellt sein müssen. Wir erleben einen permanenten Strukturwandel, haben aber gleichzeitig Strukturen bei den Gewerkschaften, die aus den 50er, 60er Jahre stammen. Die Frage zum Beispiel ist berechtigt: Können wir, nachdem die EU eine große Liberalisierungswelle erlebt hat, noch zwischen klassischen privaten und öffentlichen Dienstleistungen unterscheiden?
Auch in anderen Bereichen müssen wir neu denken: Ich erinnere an eine aktuelle Studie vom Ifo-Institut in München, die zum Ergebnis hatte, dass nur 35 Prozent der Betriebe in der Bundesrepublik tarifgebunden sind. Das ist wenig, aber es hat auch mit der Struktur der Unternehmensgrößen in Deutschland zu tun. Zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten in so genannten kleinen und mittleren Unternehmen. Bei vier, fünf Beschäftigen haben wir normalerweise erhebliche Schwierigkeiten, Betriebsräte zu gründen. Auch bei Unternehmen mit 50 bis 200 Beschäftigten gibt es deutlich weniger Betriebsräte als in Großbetrieben. Dort sind wir flächendeckend aufgestellt.
Ist da eine Grenze von 2.000 Beschäftigten überhaupt noch sinnvoll, oder sollten wir diese Grenze nicht deutlich senken, damit möglichst viele Menschen in den Genuss von mitbestimmten Unternehmen geraten? Denn dort sind die Arbeitsbedingungen besser und die Löhne höher. Das sind alles Erfolge der Mitbestimmung. Stillstand ist hier Rückschritt.

 

Mehr Informationen zum 125. Jahre 1. Mai unter dgb.de


 

Autor*in
Avatar
Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare