Inland

„Deutschtürken“: Wie weit Präsident Erdoğans Einfluss wirklich reicht

Die „Deutschtürken“ sind zum Spielball der Politik geworden: Geschickt versucht der türkische Präsident Erdoğan, sie auf seine Seite zu ziehen. Dass er dabei Erfolg hat, liegt auch an der deutschen Mehrheitsgesellschaft – und der Politik Angela Merkels.
von Paul Starzmann · 31. Juli 2017
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Nach dem Referendum im April 2017 war das Entsetzen groß: Eine deutliche Mehrheit der Türken, die in Deutschland zur Wahl gegangen waren, hatte für die Verfassungsreform des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gestimmt – und damit der Demokratie in der Türkei den Todesstoß versetzt.

Türken in Deutschland: „In Erdoğans Visier“

Seither ist die „Integrationsdebatte“ in Deutschland wieder in vollem Gange. Einen Beitrag dazu leistet nun die Mainzer Journalistin Hülya Özkan mit ihrem Buch „In Erdoğans Visier“. Schon im Vorwort verweist sie darauf, dass etwas schief läuft in der Debatte über die „Deutschtürken“. Zum Beispiel, wenn es um den „Doppelpass“ geht: „Die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft als einzig wichtiges Integrationskonzept in den Mittelpunkt hitziger Diskussionen zu stellen“, sei nicht weniger als ein „Armutszeugnis“, findet Özkan.

Sie hat Recht. Auf die Frage, warum Erdoğan nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland viele Anhänger hat, braucht es differenziertere Antworten, tiefer gehende Analysen als das Geschrei über den „Doppelpass“. Genau diese Analysen bietet Hülya Özkan in ihrem neuen Buch.

Merkels Politik: „Jahre des Aussitzens und der Heuchelei“

Anschaulich zeichnet sie nach, wie sich das Verhältnis zwischen Deutschland und der EU auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Wie europäische Politiker – allen voran Angela Merkel – die Türken immer wieder vor den Kopf gestoßen haben. Wie die Kanzlerin über Jahre eine Politik „des Aussitzens und der Heuchelei“ betrieben hat: Der Türkei verweigerte Merkel stets den Beitritt zur EU. Bulgarien und Rumanien wurden hingegen ohne großes Zögern aufgenommen. Und das, obwohl die beiden Länder damals wirtschaftlich schwächer als die Türkei gewesen seien, schreibt Özkan. In CDU und CSU sei indes mit der Warnung vor der „Türkenschwemme“ gegen eine angebliche „Völkerwanderung aus Anatolien“ Stimmung gemacht worden.

Diese Art von Feindseligkeiten gegenüber den Türken nutze Präsident Erdoğan heute gezielt aus, analysiert Özkan. Bei den „Deutschtürken“ könne er dabei auf eine spezielle Erfahrung – auf die „Wunden der Vergangenheit“ – aufbauen. „Nach den Brandanschlägen von Mölln und Solingen, der Mordserie des NSU, den antitürkischen Äußerungen des ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin“, schreibt Özkan, „haben sich mit den Jahren eine Menge Wut und Enttäuschung angesammelt“.

Der Rassismus in Deutschland spielt Erdoğan in die Hände

Daraus schlage Erdoğan und seine Partei, die AKP, nun politisches Kapital. Um die „Deutschtürken“ auf seine Seite zu ziehen, setze er auf die Sozialen Medien, das Satellitenfernsehen und sogar einen Spionagering, der mithilfe der türkischen Religionsbehörde Menschen in Deutschland ausforsche und zu beeinflussen versuche. Auch mitten in Europa seien die „PR-Netzwerke der AKP“ gut organisiert, schreibt Özkan. So verbreite Erdoğan seine Botschaften bis nach Hamburg, Köln oder Berlin.

„Dass viele Deutschtürken noch in dritter Generation sagen, ich bin Türke, liegt aber nicht nur an Erdoğan,“ stellt Özkan in ihrem Buch ebenfalls heraus. „Ebenso wenig daran, dass sie sich nicht ernsthaft integrieren wollen, sondern weil die Gesellschaft sie immer noch als Türken betrachtet.“ Özkan trifft hier einen Punkt, den Rechte und Konservative nicht verstehen wollen: Der Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die breite Ablehnung gegenüber den „Deutschtürken“, spielt Erdoğan in die Hände.

„Klares Bekenntnis zu den Deutschtürken im Land“

Hülya Özkan fordert von der deutschen Politik deshalb „ein klares Bekenntnis zu den Deutschtürken im Land – das könnte die Konfrontation beenden“. Der Dialog mit der Türkei müsse unbedingt aufrechterhalten werden, da auch AKP-Gegner dem Land ihrer Vorfahren verbunden seien. „Eine Kappung des Gesprächsfadens würde in erster Linie nicht Erdoğan, sondern der kritischen Zivilgesellschaft schaden.“

Mit solchen Appellen an Politik und Gesellschaft ist Hülya Özkans Buch ein sehr wertvoller Beitrag zu der hitzig geführten „Integrationsdebatte“ – differenziert in der Darstellung und sachlich im Ton. Davon brauchen wir mehr. Denn schrille Töne in der Diskussion über die „Deutschtürken“ gibt es derzeit mehr als genug.

Hülya Özkan: „In Erdoğans Visier: Warum er die Deutschtürken radikalisiern will und was das für uns bedeutet“, Knaur Verlag, ISBN 978-3-426-7819-3, 12,99 Euro.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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