Deutsch-Türken: Warum wir einen Aufstand der Integrierten brauchen
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Es sind schwere Zeiten als gut integrierter Deutsch-Türke. Sowohl von der populistischen deutschen Seite als auch von der konservativen türkischen Seite fühlt man sich in die Enge getrieben. Die einen behaupten pauschal, die Integration wäre gescheitert und für die anderen ist man ein Vaterlandsverräter, weil man sich für den Erhalt der Demokratie in der Türkei einsetzt. Ich finde dieses Bild, das die Medien bedienen, entspricht nicht den Tatsachen. Integration ist in weiten Teilen gelungen und das sollte auch mehr in der Vordergrund gestellt werden.
Ohne ein Wort Deutsch in den Kindergarten
Damit dieser Text nachvollziehbar und plausibel erscheint, möchte ich mich kurz vorstellen. Ich heiße Can Karagül und bin 1993 in Hamburg geboren. Meine Großeltern stammen aus einem anatolischem Dorf in der Nähe von Erzincan im Nordosten der Türkei. Mein Großvater kam zunächst alleine als Gastarbeiter nach Hamburg und wurde Maler. Mein Vater lebte in der Jugendzeit bei Verwandten und absolvierte in Istanbul das „türkische Abitur“.
Anschließend kam er mit brüchigen Deutschkenntnissen nach Deutschland und studierte hier Architektur. Nun ist er seit mehr als 25 Jahren in der Hamburger Schulbehörde angestellt. Meine Mutter lernte er in Istanbul kennen. Sie hatte dort gerade ihr Studium der Zahnmedizin beendet.
Ohne ein Wort deutsch zu sprechen, kam sie 1992 als Ehefrau nach Hamburg. Sie absolvierte eine Weiterbildung als Fachärztin für Kieferorthopädie. Ich konnte noch kein Wort deutsch als ich in den Kindergarten kam. Und genau hier beginnt der lange Weg der Integration.
Der einzige Schüler mit türkischen Eltern
Da mein Vater wollte, dass ich schnellstmöglich die deutsche Sprache von deutschen Kindern lerne, erkundigte er sich in verschiedenen Kindergärten nach dem Ausländeranteil. Eine Leiterin hat ihm wohl despektierlich geantwortet: „Was wollen Sie denn? Sie sind doch selbst ein Ausländer.“
In der Grundschule war ich der einzige Schüler mit türkischen Eltern. Aber ich habe mich nie ausgegrenzt gefühlt. Meine Freunde hießen Max, Tim und Lisa. Wenn ich zu Besuch war, gab es Essen ohne Schweinefleisch.
„Du bist doch gar kein Deutscher“
Bevor ich auf das Gymnasium wechselte, zogen wir um. Ich konnte endlich zu Fuß zur Schule gehen. Auch dort war ich der einzige mit türkischen Wurzeln. In meinem Freundkreis mit ausländischen Eltern wurde „Deutscher“ zu meinem Spitznamen. Als ich im Abitur die beste Deutscharbeit schrieb fragte mich meine Deutschlehrerin vor der gesamten Klasse: „Wieso bist du eigentlich so gut? Du bist doch gar kein Deutscher.“
Sie mochte mich sehr und meinte das als Kompliment, aber leider fehlte ihr das Fingerspitzengefühl.
Wer ist ein „echter“ Türke?
Wie ich es drehe und wende, es gibt anscheinend noch massive Vorurteile in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft. Ja, die Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte war falsch. Es wurde nicht wahrgenommen, dass die Gastarbeiter sich hier einleben und hier bleiben werden. Mich beschäftigen aber eher die hier Geborenen. Warum fühlen sie sich nicht zugehörig, obwohl sie doch theoretisch den gleichen Weg wie ich gingen?
Von einer Opferrolle der „unterdrückten“ Türken in Deutschland halte ich nichts. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert die Tatsache, dass Deutschland mittlerweile ein Land verschiedener Kulturen und Nationalitäten geworden ist. Nur einige Politiker sträuben sich noch, Deutschland als Einwanderwungsland zu bezeichnen. Wir sollten die Gemeinsamkeiten mehr in den Vordergrund stellen. Die neu entfachten Debatten über die Abschaffung des Doppelpasses bringen da herzlich wenig. Integration gelingt nicht per Knopfdruck, wenn man den türkischen Pass abgibt.
Lasst Leute über Integration reden, die diese auch durchgemacht haben
Ich bin eher der Meinung, dass dies einer zwanghaften Entwurzelung gleicht. Auch der Begriff der deutschen Leitkultur ist für mich zu schwammig. Ich bin ein großer Freund des Reinheitsgebots und habe auch schon Currywurst im Millerntor-Stadion gegessen. Ich schätze die deutsche Geschichte und im Bezug auf das Grundgesetz bin ich Verfassungspatriot.
Aber nach der Lektüre des bayerischen Integrationsgesetzes wurde mir ein wenig flau im Magen. Lasst doch mal Leute über Integration reden, die diese auch durchgemacht haben. Wir Deutsch-Türken haben leider einen großen Nachteil im gesellschaftlichen Diskurs: Man hört uns nicht und man sieht uns nicht, also werden wir vernachlässigt. Es gibt uns aber. Und langsam ist es an der Zeit, dass wir unsere Stimme erheben und Farbe bekennen.
Auch deshalb organisiere ich gerade für kommenden Sonntag eine Kundgebung am Hamburger Rathausmarkt. Es solle eine Art „Aufstand der Integrierten“ sein. Eine Veranstaltung, bei der sowohl Deutsch-Türken, als auch Deutsche ohne Migrationsgeschichte für ein gemeinsames, friedliches und demokratisches Miteinander auf Augenhöhe stehen sollen.
Legt endlich die Opferhaltung ab!
Kurz vor dem Verfassungsreferendum in der Türkei appelliere ich an die hier lebenden Deutsch-Türken, die für das Präsidialsystem stimmen möchten: Ich akzeptiere, dass die türkische Wirtschaft in den vergangenen Jahren einen Boom durch die AKP-Regierung erreicht hat. Das Gesundheitssystem wurde modernisiert und ist jetzt sozialer geworden. Aber rechtfertigen all diese Erfolge die Abschaffung der Demokratie? Jetzt ist Erdogan an der Macht und ihr seid zufrieden. Was ist, wenn er eines Tages nicht mehr im Amt ist? Dann ist jemand anderes Staatspräsident. Vielleicht jemand, der euch nicht gefällt.
Wenn ihr euch hier in Deutschland unterdrückt fühlt, legt bitte die Opferhaltung ab und sucht den Kontakt zu Behörden oder zu eurem Bürgermeister. Bringt euch ein, bekundet eure Sorgen und lasst uns hier gemeinsam in Freiheit und Frieden leben.
Es ist doch ein wenig paradox, wenn ihr hier alles verteufelt und euch beklagt, Erdogan als Erlöser und euren Präsidenten seht, aber weiterhin hier lebt. Seid ihr da wirklich ehrlich zu euch selbst?
Ein Dorn im Auge der Nationalisten
Ich bin in Deutschland aufgewachsen und werde in einigen Wochen meine Bachelorarbeit abgeben. Dann bin ich offiziell ein deutscher Wirtschaftsingenieur. Ich fühle mich hier wohl und sehe in Deutschland meine Heimat. Ich habe sehr viele Gleichgesinnte, die entweder nicht gehört werden, oder sich nicht trauen, sich zu Deutschland zu bekennen. In konservativen türkischen Kreisen gilt es als Schande, wenn man sich deutsch fühlt. Da müssen wir aber selbstbewusst drüber stehen.
Junge Menschen wie ich sind sowohl den deutschen als auch den türkischen Nationalisten ein Dorn im Auge. Wenn man sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft anschaut, gehören Mesut Özil, Ilkay Gündogan und Emre Can zu den Leistungsträgern. Die einen regen sich darüber auf, warum sie nicht die deutsche Nationalhymne singen, die anderen, warum sie nicht für die Türkei spielen und die türkische Hymne singen.
Ich finde, alle, die hier in Deutschland leben, sollten für Werte wie „Einigkeit und Recht und Freiheit“ gemeinsam stehen – aber das Singen sollte Privatsache bleiben.