Inland

Der weite Weg nach Europa

von Die Redaktion · 7. Oktober 2005
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"Die Souveränität gehört bedingungslos und ohne Einschränkung der Nation." Dieser Leitspruch des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk prangt an der Stirnwand des Plenarsaals im Parlament von Ankara.

Wenn die Türkei in den nächsten Jahren mit der EU über einen Beitritt verhandelt, wird sich das Parlament möglicherweise ein anderes Motto für seinen Sitzungssaal einfallen lassen müssen, denn bei den Gesprächen geht es nicht zuletzt um die Abgabe von Souveränitätsrechten an Brüssel. Das wird auch immer mehr Türken klar.

Die in den vergangenen Jahren ungeheuer hohen Zustimmungsraten zum Projekt der türkischen EU-Mitgliedschaft sind in den jüngsten Umfragen stark gesunken. Trotz dieser Ernüchterung sehen die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in der Türkei - von den Gewerkschaften über die Intellektuellen bis zu den Kurden - die EU als unverzichtbaren Katalysator, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat in ihrem Land voranzubringen.

Demokratisierung im Eiltempo



Eine "stille Revolution" habe sich seit 2002 in seinem Land abgespielt, sagt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gern. Wie kein anderer türkischer Regierungschef vor ihm hat Erdogan im Eiltempo demokratische Reformen durchgesetzt, die noch vor wenigen Jahren undenkbar erschienen wären. Die Militärs haben viel von ihrem früheren Einfluss auf die Politik verloren, die Kurden bekamen Fernsehsendungen in ihrer eigenen Sprache. Doch der Reformsprint hat auch deutlich werden lassen, wie viel noch zu tun ist, und wie schwierig es sein kann, beschlossene Reformen vom Gesetzblatt auf den Alltag der Bürger zu übertragen.

Wie weit der Weg der Türkei noch ist, davon kann Azize Yilmaz ein Lied singen. Die 36-jährige Kurdin haust mit ihrem Mann und sechs Kindern in einem Armenviertel in der Nähe des Flughafens der Metropole Istanbul. Vor zwölf Jahren musste Azize Yilmaz mit ihrer Familie ihre Heimat im kurdischen Südosten verlassen und nach Istanbul fliehen - ihr Dorf war im Krieg zwischen der türkischen Armee und der Rebellengruppe PKK niedergebrannt worden.

Wie Millionen von Menschen in der Türkei wurde die Kurdin zum Flüchtling im eigenen Land. Von einer Rückkehr in ihr Dorf träumt Azize Yilmaz zwar, doch die wird bis auf weiteres ein Traum bleiben: "Dort wird immer noch gekämpft, wie sollen wir da zurück", sagt sie. Die Gefechte zwischen Armee und PKK eskalieren seit einigen Monaten wieder - von einer friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts ist die Türkei noch weit entfernt.

EU-Gegner blockieren Veränderungen



Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb unterstützen die allermeisten Kurden in der Türkei das Europa-Projekt ihres Landes. "Die Kurden haben wirtschaftliche, politische und kulturelle Probleme, sie haben nicht genug Demokratie, Menschenrechte und Freiheit", sagt Zana Farqini vom Kurdischen Institut in Istanbul.

"Die Kurden glauben, dass ein EU-Beitritt zur Lösung dieser Probleme beitragen würde." Dass Erdogan kürzlich zum ersten Mal öffentlich von einem "Kurdenproblem" sprach, ließ Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts aufkommen. Den Worten seien aber keine Taten gefolgt, klagen Kurdenvertreter wie Farqini inzwischen.

Dass trotz der öffentlichen Ankündigung von Veränderungen vieles beim Alten bleibt, ist ein Vorwurf, den man in der Türkei nicht nur bei Kurden hört. Die Umsetzung von Reformen komme auf allen Gebieten nur schleppend voran, kritisieren EU-Vertreter. Europa-Gegner in der Verwaltung, in der Justiz und im Sicherheitsapparat fürchten um ihre Pfründe und verteufeln die EU als Instrument des Auslands zur Schwächung des türkischen Nationalstaates. Sie sind nur schwer dazu zu bringen, dem europäischen Geist im Alltag des Landes mehr Geltung zu verschaffen. "Ein Mentalitätswandel" sei nötig, gibt Erdogan zu.

Folter und Misshandlungen in Polizeihaft

"Mit dieser Mentalität kommt man nicht in die EU", überschreibt eine türkische Zeitung ihre Serie von Berichten über Missstände im Land. Und davon gibt es nach wie vor sehr viele. Die christlichen Minderheiten klagen weiter über Benachteiligungen, nach wie vor melden Menschenrechtler Fälle von Folter und Misshandlungen in der Polizeihaft; von der Justiz haben die Polizisten wenig zu befürchten, wenn sie überhaupt vor Gericht erscheinen müssen. Kinderarbeit, Gewalt gegen Frauen und Korruption gehören ebenfalls zu den Problemen des türkischen Alltags, denen keine Reform bisher etwas anhaben konnte.

Auch hat die Regierung Erdogan in den letzten Jahren zwar die Meinungsfreiheit erweitert - doch immer noch findet sich ein Staatsanwalt, der den bekanntesten Schriftsteller des Landes, Orhan Pamuk, vor Gericht zerrt, weil er von der Ermordung von einer Million Armeniern im Ersten Weltkrieg sprach.

Nicht nur obrigkeitsstaatliche Verbohrtheit einzelner Richter und Staatsanwälte behindert die Umsetzung europäischer Normen in der türkischen Justiz. Kazim Kolcuoglu, der Vorsitzender der Anwaltskammer Istanbul, verweist auf die fehlende Waffengleichheit von Anklage und Verteidigung vor Gericht, die sich unter anderem in der Sitzordnung in türkischen Gerichtssälen bemerkbar macht: Nach wie vor thronen Staatsanwälte und Richter gemeinsam auf einer erhöhten Bank, während der Verteidiger unten im Saal wie ein Bittsteller zu ihnen aufblicken muss. "Hier dringen wir weiter auf Veränderungen", sagt Kolcuoglu.

"Entscheidend ist aber: Wir haben in der Türkei die Organisationen und Verbände, die den Wunsch der Bevölkerung nach mehr Demokratie vertreten und vorantreiben."

Mit der EU gegen den Obrigkeitsstaat



Die EU ist für viele Türken ein Hauptinstrument, um diesen Wunsch zu verwirklichen. Zwar sehen heute nur noch 62 Prozent der Türken die EU als "gute Sache", weniger als noch vor einem Jahr. Zwei von drei Türken befürworten nach der jüngsten Eurobarometer-Umfrage allerdings eine Weiterentwicklung der EU hin zu einer engen politischen Union; das ist eine höhere Zahl als in den EU-Staaten. Außerdem glaubt mehr als jeder zweite Türke, dass sich die Rolle der EU positiv auf verschiedenste Bereiche des öffentlichen Lebens auswirkt - in den EU-Mitgliedsstaaten glauben die Menschen dagegen, dass die EU lediglich in Einzelbereichen wie der Umweltpolitik Veränderungen bewirkt.

In diesen Zahlen spiegelt sich die Ansicht vieler Türken, dass die EU die Behörden und die Politiker in Ankara zu Veränderungen zwingt, die unerreichbar wären, wenn die Türkei auf sich selbst gestellt bliebe. Die Erdogan-Regierung betont zwar, dass die von ihr eingeleiteten Reformen zum Wohl der türkischen Bürger angegangen wurden und nicht nur zur Erfüllung von EU-Forderungen. Doch die meisten Türken glauben, dass das freiere gesellschaftliche Klima im Land vor allem auf den Druck aus Brüssel zurückzuführen ist.

Deshalb haben sich auch die Vertreter der christlichen Kirchen in der Türkei trotz aller Schwierigkeiten, die sie mit dem türkischen Staat haben, für den Beginn der Beitrittsverhandlungen ausgesprochen. Die Reformen haben aus ihrer Sicht zwar längst nicht alle Hoffnungen erfüllt; so bleibt die einzige griechisch-orthodoxe Priesterschule in der Türkei weiter geschlossen.

Aber ohne den EU-Prozess wäre selbst das bisher Erreichte wohl nicht zustande gekommen. Bei Kirchenvertretern, Menschenrechtlern und sogar bei Geschäftsleuten in der Türkei kann man einen Satz immer wieder hören: "Alleine schaffen wir es nicht."

Thomas Seibert, Instanbul

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