Inland

Der Staatsbürger als EU-Bürger

von Franz Viohl · 17. Juni 2011
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Das Wort "Griechenland" fällt nicht ein einziges Mal an diesem Abend - es muss nicht fallen. Nicht weil Jürgen Habermas unter dem sperrigen Titel "Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts" auf Grundsätzlicheres als das politische Tagesgeschehen abhebt, sondern weil die Aktualität seines Themas jedem Besucher vor Augen ist. So ist das Audimax der Humboldt-Universität am Donnerstagabend übervoll, viele sitzen auf dem Boden, eine halbe Stunde vor Beginn wird kein Einlass mehr gewährt.

Der Star Habermas

Sie sind gekommen, um einen der einflussreichsten zeitgenössischen Denker zu erleben, der die Universität das letzte Mal vor vielen Jahren besucht hatte. Dazu kommt ein Thema, das - wie man es von ihm kennt - nicht bei philosophischen Abstraktionen stehen bleibt, sondern Relevanz für breite gesellschaftliche Diskurse beansprucht. Diese doppelte Erwartung erfüllt der Frankfurter Philosoph spätestens als er sich "als Bürger" wild gestikulierend über das "schamlose Verhalten der Regierungen" beschwert.

"Die Finanzkrise lässt vergessen, dass es sich bei der europäischen Einigung um ein politisches Projekt handelt", stellt Habermas fest. Dennoch müssten wir uns fragen, warum wir an diesem Ziel festhalten, wenn sich das Ursprungsmotiv "Nie wieder Krieg in Europa" erschöpft habe. Die "Verrechtlichung der Herrschaft" sei eine zentrale Errungenschaft der Moderne, die sich allerdings im Zusammenwachsen Europas weiter fortsetzen müsse. Jenseits der Zähmung zwischenstaatlicher Gewalt bestehe das "zivilisierende Element" der Europäischen Union in der Ausweitung demokratischer Strukturen auf den ganzen Kontinent.

Eine Demokratie europäischer Bürger

Dieser Prozess, und hier wird der Philosoph eindringlich, setze die staatsbürgerliche Solidarität voraus, die als eine "Solidarität unter Fremden" den anderen als Mensch mit den gleichen Rechten anzuerkennen habe. Das Potenzial einer solchen "Transnationalisierung" sieht Habermas bereits in den Verfassungen der einzelnen EU-Länder angelegt: "Das Prinzip der gemeinsamen politischen Willensbildung muss sich auf das Überstaatliche ausdehnen." Deshalb sieht er den demokratischen Charakter des europäischen Gemeinwesens darin begründet, dass die Gesamtheit der EU-Bürger als verfassungsgebendes Organ neben die nationalen Regierungen trete.

Werden also die Nationalstaaten neben einer gesamteuropäischen Regierung an Bedeutung verlieren? "Alles, nur nicht das" ist Habermas' große und für viele überraschende These an diesem Abend: Die nationale Identität ist nie nur eine kulturelle, historische oder sprachliche gewesen, sondern vor allem eine politische." Als Verkörperung des politischen Willens seiner Bürger sei der Nationalstaat sehr wichtig. Aber dieselben Bürger müssten sich als europäische Bürger verstehen und in dieser Doppelrolle an der europäischen Demokratie teilhaben können.

Kritik an der politischen Führung

Die Europäische Union verfehle in ihrer derzeitigen Verfassung dieses Ziel, urteilt der Philosoph. Angela Merkel stehe symbolisch für das Taktieren der Regierungen, das der europäischen Idee schade. Diese könne nur durch einen "zivilgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang" hergestellt werden. Hier ist Habermas ganz bei sich selbst. Auch, wenn er sagt, staatsbürgerliche Solidarität könne nicht innerhalb sozialer Ungleichheit entstehen.

Für deren Beseitigung gäbe es geltende Rechtsvorschriften, stehe doch die Forderung nach der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" im Grundgesetz. Wenn wir tatsächlich Europäer sein wollen, fragt ein Zuhörer, brauchen wir dann nicht eine neue Aufklärung? - "Nein, sie steckt in jeder unserer Verfassungen." Von dem Philosophen Habermas wünscht man sich jetzt fast doch noch ein Wort zum Ursprungsland der Demokratie. Denn dort muss sie sich heute unter den Bedingungen europäischer Solidarität beweisen.

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