„Der Mindestlohn muss bis 2021 auf 12 Euro steigen“
Sie sind Paketzusteller in Hamburg. Wie stressig ist die Vorweihnachtszeit?
Die Prognose für die DeutschePostDHL AG sagt, dass in der Vorweihnachtszeit bundesweit elf Millionen Pakete pro Tag ausgeliefert werden – eine Steigerung gegenüber 2018 um fast eine Million Sendungen. Das macht sich bei jeder einzelnen Zustellerin und jedem einzelnen Zusteller bemerkbar. Zur Entlastung wurden schon im Herbst Zusatzkräfte rekrutiert, die zum Teil extra für die Vorweihnachtszeit nach Deutschland kommen. Es wird allerdings immer schwieriger, Kräfte auf dem freien Markt zu bekommen.
Ein wichtiges Argument dafür ist sicher die Entlohnung. Sie fordern mit einer Online-Petition einen bundesweiten Mindestlohn von 12 Euro ab 1. Januar 2021. Wie kommen Sie auf die 12 Euro?
Ich beziehe mich dabei auf Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Das WSI zieht zur Berechnung des Mindestlohns nicht den Durchschnitts-, sondern der Medianlohn heran, der gerechter ist. Ein akzeptabler Mindestlohn entspricht nach Ansicht des WSI 60 Prozent des Medianlohns. So kommt man auf rund 12 Euro. Die haben allerdings ein Verfallsdatum, denn wenn die Preise weiter steigen, sind 12 Euro schon ein Jahr später viel weniger wert.
Zurzeit beträgt der Mindestlohn 9,19 Euro und wird alle zwei Jahre von der Mindestlohnkommission auf Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern neu festgelegt. Sie fordern, dass die Politik eingreift und das Gesetz ändert. Warum?
Das Grundgebot, dass nicht der Staat die Löhne festlegt, sondern die Tarifpartner, halte ich für vollkommen richtig. Die Schwierigkeit des Mindestlohngesetzes ist allerdings, dass dort ein Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 festgelegt wurde. Diese Summe war die letzte Forderung der Gewerkschaften aus dem Jahr 2010. Dazwischen liegen also fünf Jahre, in denen sich Wohnen, Lebensmittel und vieles weitere verteuert haben. Die 8,50 Euro machen es der Mindestlohnkommission nun schwer, große Sprünge zu machen. Deshalb sollte das Mindestlohngesetz geändert werden. Im kommenden Jahr muss das Mindestlohngesetz evaluiert werden. So wurde es 2015 vorgesehen. Das ist eine gute Gelegenheit, ein paar Dinge zu verändern. Aus meiner Sicht sollte die Mindestlohnkommission z.B. jedes Jahr tagen, um flexibler reagierten zu können. Statt allein die Tarifentwicklung in den Blick zu nehmen, sollte sie für die Festlegung des Mindestlohns auch die Inflation und ähnliche Faktoren berücksichtigen.
Der SPD-Parteitag hat am Wochenende beschlossen, dass der Mindestlohn „perspektivisch“ auf 12 Euro steigen soll. Reicht das aus?
Das kommt darauf an, wie weit diese Perspektive geht. Die neuen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben ja vor ihrer Wahl eine sofortige Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro gefordert. Das wäre sicher besser gewesen. Ich verstehe natürlich, dass der Parteitag im Hinterkopf hatte, dass ein Mindestlohn von 12 Euro bei der CDU nicht gut ankommt. Aber die Summe ist in zwei Jahren bereits Makulatur. Der Mindestlohn muss bis 2021 auf 12 Euro steigen oder danach noch höher liegen.
Kritiker sagen, dass ein so hoher Mindestlohn eine Gefahr für Tariflöhne werden könnte. Zurecht?
Diese Gefahr sehe ich nicht, denn es gibt ja aus gutem Grund ein Tarifabstandsgebot. Das heißt: Wenn der Mindestlohn zum 1. Januar 2021 auf 12 Euro steigt, müssen die Tarifpartner die Tariflöhne nach oben korrigieren. Das wäre natürlich ein gewaltiger Schluck aus der Pulle, vor allem aber ein riesen Schritt raus aus dem Niedriglohnsektor. Auch mit Blick auf die drohende Altersarmut wäre das eine deutliche Verbesserung. Und nicht zuletzt kann man so auch den braunen Stinkern von der AfD den Wind aus den Segeln nehmen.
Inwiefern?
Aus meiner Sicht ist eine der Ursachen, warum sie AfD so erfolgreich ist, die Armut im Land. Es gibt rund 1000 „Tafeln“ in Deutschland mit steigenden Kundenzahlen. Dass die Menschen da unzufrieden werden, ist leicht nachvollziehbar. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen, die den Wohlstand unseres Landes erarbeiten, von dem Lohn, den sie bekommen, auch vernünftig leben können. Wenn uns das gelingt, kriegt die AfD keinen Stich mehr.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.