In der Fremde alt geworden
An den meisten Tagen ist Selma Bekkaya der einzige Mensch mit dem Ali Deniz spricht. Für circa 20 Minuten täglich besucht die examinierte Altenpflegerin den 74-jährigen Mann in seiner Wohnung in Berlin. Sie überprüft seinen Blutzucker, spritzt ihm Insulin, füllt seine Tablettenbox auf – und was für Deniz mindestens genauso wichtig ist: Die 38-jährige fragt, wie er sich fühlt, was er gegessen hat, nimmt Anteil an seinem Leben. „Benim kizim – meine Tochter“ nennt Deniz Bekkaya.
Auch der 57-jährige Battal Dogan, an dessen Haustür Bekkaya an diesem Dienstagmorgen als nächstes klingelt, begrüßt sie als „seine Tochter“. Obwohl die Herzlichkeit der Begegnung es vermuten lässt, sind die energiegeladene Frau mit der Sternchen-Tättowierung am Unterarm und der massige Mann nicht miteinander verwandt. Bekkaya ist eine bezahlte Pflegekraft. Sie arbeitet seit 16 Jahren für Deta-Med, ein Unternehmen in Berlin, das sich auf kultursensible Pflege spezialisiert hat.
Mehr als jeder Fünfte in Deutschland lebende Mensch hat einen Migrationshintergrund. Davon ist rund ein Drittel in Deutschland geboren, zwei Drittel sind im Laufe ihres Lebens zugewandert. Der Altersdurchschnitt der Zuwanderer liegt mit 35 Jahren rund zehn Jahren unter jenem der Deutschen ohne ausländische Wurzeln. Neuzuwanderer sind mit 28 Jahren noch deutlich jünger. Es sind genau jene Menschen, die in Deutschland angesichts des demographischen Wandels fehlen, um die Lücken bei Rentenzahlungen und Fachkräften zu füllen. Die deutsche Wirtschaft braucht wieder ausländische Arbeitskräfte, wie in den 1950er und 60er Jahren, als vor allem Türken angeworben wurden, um hier zu arbeiten und zu leben.
Männer wie Ali Deniz, der 1968 als Gastarbeiter nach Münster kam und dort in einer Textilfabrik arbeitete. Jetzt ist die erste Generation der Zuwanderer alt geworden und pflegebedürftig – und so wenig, wie man darauf vorbereitet war, dass die Gastarbeiter in Deutschland bleiben und nicht mehr in ihre Herkunftsländer gehen, so wenig hat man sich um ihre Gesundheitsversorgung gekümmert. Die Zahl der kranken Menschen wächst, auch bei den Migranten und gerade jene, die sehr häufig körperlich hart gearbeitet haben, nehmen die Vorsorge-, Rehabilitations- und Pflegeleistungen in Deutschland selten in Anspruch, so das Ergebnis verschiedener Studien. Migranten scheitern an der Sprachbarriere und noch häufiger an dem fehlenden Wissen um das, was ihnen zusteht, weiß auch Nare Yesilyurt.
„Keiner glaubte an meine Idee“
Die 47-jährige Diplom-Pädagogin hat 1999 den Pflegedienst Deta-Med gegründet. Ihre Idee: Durch die Ausbildung zur Pflegekraft jenen türkischen Frauen, die nach Deutschland verheiratet werden, um hier ihre türkischen Schwiegereltern zu pflegen – sie spricht von „Importbräuten“ – durch die Arbeit als Pflegekraft eine Möglichkeit zu geben, sich in die Gesellschaft zu integrieren und zugleich Migranten über das deutsche Gesundheitssystem aufzuklären.„Ich habe den Bedarf gesehen, aber am Anfang hat keiner an meine Idee geglaubt“, erzählt Yesilyurt. „Die Türken, die haben doch Großfamilien, die kümmern sich doch untereinander“, habe man ihr gesagt, als sie einen Kredit für ihre Gründung beantragen wollte. „Nichts weiter als ein Vorurteil.“ Denn die Kinder der Gastarbeiter sind häufig berufstätig und haben keine Zeit, um ihre Eltern zu versorgen. Zusätzlich zum fehlenden Wissen um die Gesundheitsleistungen ist es die Scham, auf Hilfe angewiesen zu sein und der Glaube, dass Krankheit eine Strafe Gottes sei, die die Inanspruchnahme von Pflege erschweren.
Obwohl der Bedarf nach Pflegekräften vorhanden war, hat es fast zwei Jahre gedauert bis der kultursensible Pflegedienst von Yesilyurt gut angenommen – und damit auch wirtschaftlich erfolgreich – wurde. Dafür hat die gelernte Krankenschwester viel Aufklärungsarbeit geleistet und in türkischsprachigen Radio- und Fernsehsendern über Pflegeleistungen informiert. „Ich habe dabei an meine eigene Mutter gedacht, die kaum lesen konnte, und da wusste ich, dass ich die Menschen direkt erreichen muss und Broschüren nur wenig bringen“, sagt die Deutschtürkin. Heute beschäftigt Yesilyurt rund 270 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und betreibt neben dem ambulanten Pflegedienst noch eine Tagespflegeeinrichtung und eine Wohngemeinschaft für Migranten. Weil sie sich gezielt für alleinerziehende Mütter als Arbeitskräfte entscheidet und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördert, ist Yesilyurt 2010 mit dem zweiten Platz der Berliner Unternehmerinnen des Jahres ausgezeichnet worden. Ihr neuestes Projekt ist ein kultursensibles Hospiz, das wäre das erste seiner Art in Berlin.
Auf den Patienten hören
Kultursensibel pflegen, das heißt für Yesilyurt nicht automatisch, dass man aus dem gleichen Kulturkreis wie der zu pflegende Mensch kommen muss. Sie ist überzeugt: „Man kann auch Menschen optimal versorgen, ohne dass man die gleiche Sprache spricht – und auf der anderen Seite kann man auch scheitern, obwohl man aus dem gleichen Kulturkreis kommt.“ Kultursensible Pflege, das bedeute vielmehr selbstbestimmte Pflege, bei der man auf den Patienten und seine Bedürfnisse hört und sich auf die Gewohnheiten, die Biografie des Menschen und seine speziellen Bedürfnisse einlässt. „Der Patient entscheidet selbst, wie er gepflegt werden will.“
Deshalb unterscheiden sich die „kultursensible“ und die „normale“ Pflege oft nur in Kleinigkeiten voneinander, die aber für die Patienten sehr wichtig sind. So wollen viele Muslime nicht im Bett, sondern im Bad unter fließendem Wasser gewaschen werden, oder es erscheint ihnen selbstverständlich, dass die Wohnung nur in Socken betreten wird.Es ist das Wissen, um diese Unterschiede, für das man geschultes Personal braucht. Das hat auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, erkannt und ihre Arbeit in diesem Jahr unter den Schwerpunkt „Gesundheit und Pflege in der Einwanderungsgesellschaft“ gestellt.
„Alle in Deutschland lebenden Menschen müssen sich im Gesundheitswesen zurechtfinden und damit die ihnen zustehenden Angebote nutzen können“, so das Ziel der stellvertretenden SPD-Vorsitzenden. Weil bisher Menschen mit Einwanderungsgeschichte noch zu wenig von der guten Gesundheitsversorgung profitierten, müssten die Verantwortlichen bei Verbänden endlich für das Thema sensibilisiert werden, so Özoguz (zum Interview). Es gäbe bereits viele gute Initativen, auch von Migrantenseite, diese müssten aber ausgebaut werden. Eine Datenbank mit mehrsprachigen Infomaterialien ist angedacht und auch bei Kinderärzten soll nachgebessert werden, ebenso bei der Gesetzgebung. Zudem brauche es entsprechendes Personal, sowohl aus dem In- als auch aus dem Ausland.
Für Selma Bekkaya, die seit 16 Jahren pflegt, ist die wichtigste Voraussetzung für den Beruf, „dass man mit dem Herzen arbeitet“. Mehr als 20 Patienten besucht die dreifache Mutter am Tag. Gerade bei der ambulanten Pflege gehe es dabei vor allem „um das Menschliche“. Eine Voraussetzung, die unabhängig der kulturellen Herkunft, gegeben sein muss.