Magnus Gäfgen ist ein Mörder. Er hat eine derart schwere Schuld auf sich geladen, dass es scheint, als reiche die Bezeichnung dieses schwersten uns bekannten Delikts nicht, um zu verdeutlichen was er getan hat. Seine Tat ist für uns schlicht unbegreiflich. Wohl deshalb erscheint uns eine Gleichstellung mit dem "gemeinen Mörder" als unzureichend.
Wolfgang Daschner hingegen ist in den Augen vieler ein mutiger Kämpfer für das Gute, der sich in einem Moment großer Not zu einer schwerwiegenden Entscheidung durchgerungen hat, um das Leben eines kleinen unschuldigen Jungen zu retten. Es fällt uns leicht ihm zu glauben, dass ihm die Entscheidung schwer fiel, dass er sich ihrer Tragweite bewusst war und dass er sie nicht gleichsam nebenbei getroffen hat. Wolfgang Daschners Entscheidung, dem Mörder Magnus Gäfgen Folter anzudrohen, ist für viele von uns gar nachvollziehbar.
Und doch: beide haben das geltende Recht gebrochen. Beide sind verurteilte Täter. Wir gehen in unserem Rechtssystem aus gutem Grund davon aus, dass Unrecht quantifizierbar ist. Doch auch wenn wir meinen, das Unrecht, das Magnus Gäfgen beging, sei nicht hoch genug anzusetzen, so können wir doch das Unrecht des Wolfgang Daschner im Vergleich dazu als überaus gering betrachten. Dennoch bleibt es dabei, dass die Androhung von Folter strafrechtliches Unrecht ist. Etwas Gegenteiliges zu verlangen, wäre falsch.
Bereits an dieser Stelle beginnen die ersten Stimmen lautstark ihren Missmut kundzutun. Beide sollen Straftäter "im Namen des Volkes" sein, und das, obwohl "das Volk" doch scheinbar ganz anders entschieden hätte? Dann stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch noch fest, dass es sich bei der Folterandrohung um einen Menschenrechtsverstoß gehandelt hat und zu allem Überfluss spricht ein deutsches Gericht dem Kläger Magnus Gäfgen eine Entschädigung zu. Nun scheint des Volkes Seele nicht mehr nur zu brodeln, sondern zu kochen. Immer heftiger werden die Unmutsbekundungen gegenüber dem (Rechts-)Staat, der EU und den Politikern.
Dabei zeigen gerade die Fälle Gäfgen und Daschner, dass unser Rechtsstaat funktioniert! Dass verschiedene Entscheidungen nicht vermengt werden und jeder Fall für sich betrachtet wird. Dass Recht beachtet und dennoch im Einzelfall angemessene Entscheidungen getroffen werden können, die den einen so wenig wie möglich und den anderen mit der höchstmöglichen Strafe belastet haben!
Die (vermeintliche) Stimme des Volkes wurde beachtet, aber nicht blind befolgt. Denn so sehr es jedem Einzelnen von uns gestattet sein muss, emotional zu denken - etwa Magnus Gäfgen für ein Monster und Wolfgang Daschner für das Gegenteil zu halten - so sehr existiert unser Rechtssystem, um genau diese Emotionen aus unseren Entscheidungen herauszuhalten. Jeder Mensch muss die Sicherheit haben, dass das Recht für alle gilt und es keine Willkürentscheidungen gibt. Unsere Rechtsprechung spricht das Recht, das die Bevölkerung mehrheitlich in neutraler, besonnener Verfassung, für gerecht hält. Wer nach Gerechtigkeit ruft, muss akzeptieren, dass Magnus Gäfgen Unrecht getan wurde. Ganz gleich, welche Übel er verursacht hat - kein Bürger dieses Staates wird jemals rechtelos.
Wir sollten stolz sein darauf sein, wenn der Staat seine Macht "im Namen des Volkes" - also in unserem Namen - mit Bedacht einsetzt und das ganz ohne unsere Emotionen zu leugnen! Wir sollten uns trauen, die eigene menschliche Schwäche nicht auf unseren Rechtsstaat zu übertragen und zuletzt sollten wir erkennen, dass es nicht die eine "Stimme des Volkes", und erst Recht kein Medium gibt, das diese Stimme als Alleinstellungsmerkmal proklamieren kann. Nicht die, die sich am lautesten zu Wort melden, sondern die, die eine demokratische und rechtstaatliche Legitimität haben, sollen für uns das Recht anwenden. Wie man angemessen mit einer Tragödie umgehen kann, hat uns die norwegische Gesellschaft gerade in beeindruckender Weise vorgelebt.
Wenn wir das dies Erkennen, können wir nicht nur stolz auf unseren Rechtsstaat, sondern auch ein bisschen auf uns selbst sein.
2002 wurde Magnus Gäfgen zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er einen Bankierssohn entführt, getötet und die Tat schließlich gestanden hatte. Weil ihm im Verhör ein Polizeibeamter körperliche Gewalt angedroht hatte, um das Versteck des entführten Jungen zu erfahren, hat das Frankfurter Landgericht ihm Anfang August eine Entschädigung von 3000 Euro zugesprochen.
Frédéric Schneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Strafrecht und Sprecher des Kreis Liberaler Sozialdemokraten.