Inland

Demokratie in Gefahr

von Martin Schulz · 21. September 2014

Unterwirft sich die Politik dem Diktat der Märkte, scheitert die Demokratie.

Ein Gespenst geht um in Europa. Aber anders als vor 170 Jahren, als Karl Marx und Friedrich Engels mit diesem Satz ihr Kommunistisches Manifest begannen, ist das heutige Gespenst die schleichende Entparlamentarisierung. Es spukt in den europäischen Mitgliedstaaten ebenso wie innerhalb der EU. Auch wenn es in Zeiten der ökonomischen Krise, in der Menschen Angst um das Ersparte haben, kaum jemanden zu interessieren scheint: Aber Entparlamentarisierung ist nicht irgendetwas. Es geht um das, was von Sozialdemokraten und anderen Freiheitskämpfern erstritten wurde und was konstitutiv für unseren Staat ist: die demokratische Ordnung unseres Gemeinwesens. Denn die Demokratie kommt von mehreren Seiten unter Druck. 

Da ist zunächst der weitverbreitete Eindruck, Politik sei getrieben von anonymen Kräften, z.B. Rating-Agenturen, die ihre Vorstellungen einfach so durchdrücken. Das ist gefährlich. Denn: Warum soll ich noch zu einer Wahl gehen, wenn Politik eh nichts mehr zu sagen hat? Wofür brauche ich Parteien, wenn es keine Alternativen mehr zu geben scheint, weil Politik nur das umsetzt, was „die Märkte“ verlangen? Da ist zum zweiten der Eindruck, dass es endlose Milliardenpakete zur Rettung von Banken gibt, während bei Kindergärten und Schulen gespart wird, weil dafür kein Geld mehr da ist. 

Auch hierdurch gerät unsere Demokratie unter Druck, weil so ein Gerechtigkeitsproblem entsteht, das keine Gesellschaft aushält. Und zum dritten ist da die Reaktion von vielen Regierungen, die seit dem Ausbruch der Krise ihre Parlamente möglichst wenig an der Krisenbekämpfung beteiligen oder sie zwingen, Entscheidungen von großer Tragweite in atemberaubendem Tempo durchzupeitschen. Denn, so wird gesagt, Zeiten der Krise seien eben Zeiten der Exekutive. 

Bei all dem wird übersehen, dass die Krise nun schon ins fünfte Jahr geht und dass der Ausnahmezustand zum Regelfall wird. Das ist systemgefährdend! Wir müssen sehr aufpassen, dass Angela Merkel sich nicht mit ihrer Forderung nach einer marktkonformen Demokratie durchsetzt. Also einer Demokratie, die sich dem Diktat einer entfesselten globalen Ökonomie unterwirft. Das wäre fatal! Denn umgekehrt muss gelten: Nicht die Demokratie muss marktkonform sein, sondern die in Wahlen ausgedrückte Mehrheitsmeinung muss Banken, Märkten und Rating-Agenturen Regeln setzen, denen diese zu folgen haben. Auch Wirtschaft findet nicht im rechtsfreien Raum statt. Die notwendige Regulierung kann aber ein einzelner Staat nicht durchsetzen. Dazu bedarf es starker europäischer Maßnahmen. Da diese zur Zeit nicht erreicht werden, weil einige konservativ-neoliberale Regierungen dabei nicht mitziehen, wird eine vernünftige Finanzmarkt- und Bankenregelung in einigen Vorreiter-Staaten beginnen müssen.

Ein großer Sieg für die SPD

Die europäische Sozialdemokratie hat dank der SPD bereits einen großen Sieg errungen, als sie bei den Verhandlungen zum Fiskalpakt die Einführung der Finanztransaktionssteuer in mindestens neun EU-Staaten durchgesetzt hat. Das war ein erster wichtiger Schritt. Aber weitere Regeln sind nötig, um den globalen Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu zivilisieren. Dafür brauchen wir eine Debatte, in der Alternativen diskutiert werden. Es geht um die Frage, in welchem  Europa wir leben wollen. 

Ich will ein Europa, das den hohen wirtschaftlichen und sozialen Standard hält und das im Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz Vorreiter bleibt. Das Europaparlament und die Kollegen in den nationalen Parlamenten werden nicht warten, ob sich bei den Regierungen endlich auch diese Einsicht durchsetzt. Sondern wir werden weiterhin unbequemer Drängler für einen Politikwechsel sein.

Wir werden unsere Demokratie nur mit und durch Europa behalten können, weil jedes europäische Land allein, im Sturm der Globalisierung hin- und hergetrieben würde. Scheitert Europa, dann scheitert auch unsere Demokratie. Auch darum geht es in der aktuellen Krise.

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Martin Schulz

ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er war von 2017-2018 SPD-Parteivorsitzender und von 2012-2017 Präsident des Europäischen Parlaments.

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