Demokratie braucht Dialog
Es gibt diese Sätze, die man einmal für richtig befunden hat, und die man fortan nicht dauernd hinterfragt, öfter einmal bei der einen oder anderen Gelegenheit von sich gibt oder sogar versucht, nach ihnen zu leben. Leistung muss sich lohnen, mag so ein Satz sein. Oder: Einigkeit macht stark. Dass es besser sei, miteinander zu reden als übereinander, ist auch so ein Satz. Ja, Sprachlosigkeit gehört zum Schlimmsten, was zwischen Menschen herrschen kann. Wenn man sich nichts mehr zu sagen hat. Wenn man dies nicht einmal mehr gemeinsam schade finden kann. Es kommt in den sogenannten besten Familien vor, in Unternehmen und Vereinen, natürlich in den politischen Parteien. Manchmal geht man sich dann einfach aus dem Weg. Manchmal trennen sich auch die Wege. Scheidung, Parteiaustritt, neuer Job. Manche Bindung aber wird man nicht so leicht los. Das sind die Bindungen, die wir uns nicht aussuchen, wo wir geboren werden, von wem, dann aufwachsen und irgendwann leben, in Dresden, Sachsen, in Deutschland, zusammen. Familie, Nachbarn, seine Nationalität sucht man sich in aller Regel nicht einfach aus. Wir sollten also miteinander zurecht kommen. Es überzeugt mich daher nicht, einen Dialog zu verweigern.
Ich kann dagegen nachvollziehen, dass man sich nicht beschimpfen lassen will. Ich verstehe den Frust angesichts der erbärmlichen Talkshows im Fernsehen, bei denen die Diskussion immer dann abgebrochen wird, wenn gerade ein Punkt geklärt werden könnte. Die Haltung liegt nahe, das ganze Geschwätz für vergeblich zu halten, für sinnlos. Und natürlich kann man die Frage stellen, was nun eigentlich das Ergebnis einer Online-Diskussion mit über 500, teilweise kruden Kommentierungen ist, die sich vor Weihnachten anlässlich einer Veröffentlichung zum Thema Flüchtlinge auf meiner Facebook-Seite angesammelt haben. Es geht also nicht um einen Dialog an sich, sondern um einen, der so geführt wird, dass etwas dabei herauskommen kann. Wie kann dieser aussehen?
Die Sprachlosigkeit überwinden
Die zentrale Frage ist, sich zu Beginn eines Gesprächs darüber klar zu sein und nach Möglichkeit zu verständigen, was in diesem Gespräch herauskommen könnte. „Gut, dass wir darüber geredet haben“, heißt es häufig. Wenn das das Ende eines politischen Abstimmungsprozesses ist, dann ist im Prinzip nichts herausgekommen. Aber nicht alles ist gleich Abstimmung mit dem Ziel einer Einigung oder gemeinsamen Lösungssuche. Sprachlosigkeit, wo sie herrscht, zu überwinden, ist tatsächlich für sich genommen schon ein großer Schritt und kann überdies auch der erste für weitere folgende sein. Wagt man ihn nicht, bleiben auch die Möglichkeiten der weiteren Wegstrecke verwehrt. Wagt man ihn, kann man den anderen vielleicht ein bisschen besser verstehen. Es ist grundsätzlich sinnvoller, miteinander zu reden, als dies bleiben zu lassen.
Gehört werden heißt nicht, erhört werden, hat der baden-württembergische Ministerpräsident gesagt. Das ist auch ein völlig richtiger Satz, weil man es ja sonst allen recht machen müsste, was bekanntlich nicht geht. Gleichzeitig ist gehört zu werden ein Grundanliegen jedes Menschen, von klein auf. Als Bundestagsabgeordnete erleben wir es gelegentlich, dass Menschen uns einfach ihre Sicht der Dinge darlegen wollen und gar nicht (unbedingt) erwarten, dass etwas geschieht. Man soll etwas wissen, zur Kenntnis oder überhaupt wahrnehmen. Und der andere will „etwas loswerden“ und danach geht es auch schon besser. Das sind Grundmuster menschlicher Kommunikation. Es ist schädlich, sie zu ignorieren. Natürlich wird der Satz „Man kann es nicht allen recht machen“ auch häufig nur theoretisch akzeptiert, das konkrete Anliegen soll dagegen unbedingt eins zu eins umgesetzt werden. Ich sage nicht, dass Kommunikation ein einfaches Geschäft ist.
Grenzen ausloten geht nur im Dialog
„Ich rede über mich und Du redest über Dich, das ist ein Gespräch“, sagt der Familientherapeut Jesper Juul. Sinnvoller Weise hört man sich dann noch zu, wenn man gerade selbst nicht dran ist. Ich schreibe diese banal klingenden Dinge, weil sie nach meiner Erfahrung in den meisten Fällen nicht durchgehalten werden. Man sammelt seine eigenen Gedanken, man hängt noch bei einer Aussage von vor fünf Minuten, es fällt einem überhaupt etwas anderes ein, schwups hat man eben nicht zugehört. Ganz zu schweigen von dauernden Unterbrechungen über Smartphones. Manchmal ist es auch schwer erträglich, jemandem zuhören zu müssen. Manchmal erwartet man dies aber auch schon so sehr im Vorhinein, dass es dann gar nicht anders kommen kann. Mitzubekommen, was wechselseitig schwer erträglich ist, ist bereits ein riesengroßer Erkenntnisgewinn für das weitere Miteinander. Wo hat der jeweils andere Grenzen? Dies auszuloten, ist für eine Gesellschaft wichtig, es ist nie ein für allemal geklärt und es geht eben nur: im Gespräch.
Wir brauchen aber mehr als das. Wir müssen anspruchsvoller sein. Wir können nicht ernsthaft zusehen, dass Menschen sich von Thilo Sarrazin oder dem seltsamen Personal, das die Pegida-Bewegung anführt, eher wahrgenommen, verstanden und irgendwann vielleicht sogar vertreten fühlen, als durch die Tausenden, aufrechten haupt- und ehrenamtlichen Politikerinnen und Politiker, die ja mehr oder weniger fleißig und beständig an den gemeinsamen Fragen arbeiten und sich alle mehr Mitstreiterinnen und Mitstreiter für die Bewältigung der vor uns liegenden Aufgaben wünschen. Es sind große Fragen, die uns beschäftigen. Wie soll das Zusammenleben in Deutschland in Zukunft funktionieren? Wieviel und welche Zuwanderung brauchen wir? Wie ist das Verhältnis von Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften?
Gesprächskultur verbessert man im Gespräch
Diese Fragen müssen zunächst auf eine gemeinsame Faktengrundlage gestellt werden. Was ist gesetzt und kann kein Gegenstand von ergebnisoffenem Dialog sein? Was sind die offenen Fragen? Auf was können wir uns verständigen? Wo liegt der Dissens, lässt er sich auflösen oder kann man auch auseinandergehen und sich einig darin zu sein, nicht einig zu sein? Gemeinsam heißt, dass nicht nur die eingebunden werden dürfen, die sich ohnehin schon einig sind. Gemeinsam heißt, dass Fragestellungen, Expertenauswahl und Vorgehensweise miteinander bestimmt werden. Gemeinsam heißt als Voraussetzung, dass man wirklich ein gemeinsames Ergebnis anstrebt. Dabei werden Sachfragen (Wie lauten die Prognosen zur demografischen Entwicklung?) und ihre Bewertung (Was sollen wir tun?) getrennt. Das Ergebnis ist Versachlichung - angesichts grassierender Verschwörungstheorien von hohem Wert.
Vielleicht gelingt auf einer solchen Basis auch, ein positives Zukunftsbild zu entwickeln, wie ein gutes Zusammenleben von Einheimischen und Neuankömmlingen gelingen kann. Es ist wichtig, nicht immer nur in aktuellen Problemen zu rühren, sondern eine Vorstellung zu haben, wo man hin will. Und diese Vorstellung muss so attraktiv sein, dass sich Menschen dafür engagieren. Dialog, gemeinsame Erarbeitung der Faktengrundlage, positive Zielstellungen, diesen Dreischritt braucht es, um die Zukunftsfragen anzugehen, die man ja auch nur mit den Menschen, nicht gegen oder auch nur ohne sie bewältigen kann. Dass es dafür auch ein vernünftiges Miteinander braucht, ist klar. Aber auch die Gesprächskultur verbessert man im Gespräch, nicht durch seine Verweigerung. Ja, es ist besser miteinander zu reden, als übereinander. Man muss sich nicht offiziell mit den Initiatoren von Pegida zusammensetzen, aber man muss mit den Menschen über die Themen sprechen, die sie bewegen. Demokratie lebt vom Dialog.
Prof. Dr. Lars Castellucci ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages und Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion.