Anfang der 70er Jahre brach der Journalist Jürgen Roth ein Tabu. Über 14 Millionen Menschen lebten hierzulande unter der Armutsgrenze, rechnete er in seinem Buch "Armut in der Bundesrepublik
Deutschland" vor. Schlagartig zerstörte er damit die Illusion, im Land des Wirtschaftswunders gehöre Armut der Vergangenheit an.
"Jahrzehntelang blieb die Armut geradezu ein Tabuthema, mit dem sich die deutsche Öffentlichkeit kaum befasste", beschreibt der Armutsforscher Christoph Butterwegge die Situation in der
damaligen BRD. In seinem Buch "Armut in einem reichen Land" zeichnet er den Umgang mit dem Phänomen Armut nach und kommt zu dem Schluss: "Zu keinem Zeitpunkt hat sich dem Gesellschaft mit dem
Problem der sozialen Ungleichheit auseinandergesetzt und nach Möglichkeiten zu dessen Lösung gesucht, sondern die Armut meistenteils bewusst ignoriert, negiert oder relativiert, um ihm ausweichen
zu können."
Das Verdrängen hat beim Thema Armut Tradition. Dies zeigt Butterwegge in einem chronologischen Abriss von den Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg, über die Wirtschaftskrise in den 70er
Jahren bis zu Hartz IV. Anhand wissenschaftlicher Publikationen und deren Rezeption in Gesellschaft und Politik belegt der Politologe, dass Armut zu allen Zeiten beschönigt und verschleiert
wurde. Euphemistische Ausdrücke wie "abhängtes Prekariat" sind ein Ausdruck dafür.
Schonungslos ehrliches Gesellschaftsbild
Im Schlusskapitel klopft Butterwegge "Wege und Irrwege der Armutsbekämpfung" ab: den "aktivierenden Sozialstaat" als Möglichkeit der Armutsprävention, die Bürgerversicherung und das
bedingungslose Grundeinkommen. Zieht sich der Armutsforscher zu Anfang auf eine wissenschaftlich-analytische Position zurück, bezieht er hier eindeutig Stellung und erklärt, warum aus seiner
Sicht eine Reichensteuer sowie ein gesetzlicher Mindestlohn unumgänglich sind, soll Armut tatsächlich wirksam bekämpft werden.
Auf rund 300 Seiten zeichnet Christoph Butterwegge ein schonungslos ehrliches Bild unserer Gesellschaft. Er räumt mit Vorurteilen auf (arm sind nur die Außenseiter) und sagt deutlich, was
sich ändern muss, soll Armut nicht nur ein Problem sein, über das gesprochen wird, sondern endlich eines, das auch ernst genommen wird. Denn sicher ist: Verschwinden wird das Thema so schnell
nicht - weder von der politischen Agenda, noch aus der Gesellschaft.
Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Campus Verlag 2009, ISBN 978-3-593-38867-0, 24,90 Euro