Die Grundschule fand er "furchtbar" und später auf einem West-Berliner Elitegymnasium habe er als Außenseiter zwischen Minister- und Chefarztkindern "ganz schön gelitten", sagt Matthias Lilienthal, Intendant des Hebbel-am-Ufer (HAU). 32 Jahre nach seiner eigenen Schulzeit schickt der Dramaturg sein Publikum zur Schule. "X-Schulen" spielt nicht im Theaterhaus, sondern im Gebäude der Hector-Peterson-Gesamtschule. Die steht in Kreuzberg, schräg gegenüber dem HAU und hat wenig bis nichts mit den Lehranstalten zu tun, in denen Lilienthal die Schulbank drückte. 500 Schüler, 95 Prozent von ihnen mit Migrationshintergrund, Jobchancen nach dem Abschluss: wenige.
Lilienthal war vor Projektbeginn klar: "Bei den Erfahrungen dieser Kids und meinen eigenen ist vielleicht unsere einzige Schnittmenge, dass uns die Schule auf den Wecker geht. Ansonsten ist
deren Realität nicht mit meiner zu vergleichen." Deshalb habe er "versucht zu kapieren, wie die ticken". Und was hat er kapiert? "Viele der grausamen Vorurteile über den bankrotten Zustand des
Schulsystems stimmen leider." Denn obwohl die Hector-Peterson-Schule "einen super Direktor und ein super Kollegium" habe, "das viel möglich macht", hätten "viele von diesen Kids wenig Chancen, in
so etwas wie einen Arbeitsprozess hineinzukommen. Das wissen die, und das ist eine Härte, die fett ist".
Zurücklehnen geht hier nicht
Als Theatermann ging Lilienthal auf seine Weise mit dieser Erkenntnis um: Er schickte 27 renommierte und internationale Künstler in die Schule, jeder erarbeitete mit einer kleinen
Schülergruppe eine zehnminütige Inszenierung. Heraus kamen drei Parcours, die die Zuschauer durchlaufen und zum Teil auch durchleiden durften. Heraus kam auch, dass Bildung, Integration, Toleranz
und Chancengleichheit unausweichlich miteinander verknüpft sind und eins nicht ohne das andere funktioniert.
Das Mittel war der Rollentausch. Schüler spielten ihre Eltern beim Elternabend: Ein Vater, der monologisiert, warum seine Tochter nicht versetzt wird, obwohl sie ein freundlicher Mensch ist, fleißig obendrein und toll Fußball spielt. Zwischendurch stellt er dann auch noch fest, dass er der Einzige hier ist und fragt sich kurz, warum das so ist, ob die anderen Eltern sich nicht interessieren. Die Worte bleiben ihm aus, als der Lehrer ihm ein anderes Bild der Tochter entgegenschleudert: das vom frechen, aggressiven Mädchen.
In einem anderen Raum sind die echten Schüler eine Jury, die einen Referendar beurteilen sollen, der eine Waschung nach islamischem Ritus vorführt. Die Zuschauer spielen die Schüler und sind
peinlich berührt, wenn der prüfende Lehrer den Referendar harsch anfährt. Ein Stück Schulzeit kehrt zurück. Menschen werden zurechtgestutzt, öffentlich. Die Zuschauer sind Teil der Inszenierung,
müssen ihr Handy abgeben und in einem Fragebogen angeben, ob sie Sitzenbleiber waren und ob sie wissen, wie viel Mitgliedstaaten die EU hat. Nur Zurücklehnen und Zuschauen, das geht hier nicht.
Die denken schlecht über uns
Im nächsten Raum verstärkt sich das unangenehme Gefühl: Drei Mädchen spielen eine Szene über den "Kotti", die Gegend am Kottbusser Tor, der für seine sozialen Probleme und seinen hohen
Migrantenanteil bekannt ist. Eine Schülerin zeigt auf die andere, wie auf ein Stück Vieh: "Das sind Ghettokids, schauen Sie, wie die Arme herabhängen, so ghettomäßig, der Blick verführerisch,
stehen Sie auf, schauen Sie sich das an."
Im nächsten Raum stehen die Theaterbesucher am Lehrerpult, vor einer Schar virtueller Schüler, deren Köpfe aus Computerbildschirmen zu den Zuschauern sehen. Die Mädchen tragen fast alle Kopftuch, die Jungs haben kurz geschorene Haare. "Die denken schlecht über uns", klingt plötzlich die Stimme einer Schülerin aus dem Computer in den Raum. Ihre Banknachbarin blickt finster unter rosa Glanzstoff hervor: "Sie wollen, dass wir unsere Kopftücher ausziehen. Aber ich verlange ja auch nicht, dass sie ihre Hosen ausziehen." Man fühlt sich beobachtet, obwohl es nur Filmaufnahmen sind. "Die denken, wir sind Hartz IV", sagt ein Junge.
Und wieder dieses beklemmende Gefühl. Die nächste Station verspricht, lustiger zu werden: Eine Schauspielerin gibt die Lehrerin und doziert über den indischen Freiheitskämpfer Scuba Candra, der laut neuester Forschung Adolf Hitlers Zwillingsbruder gewesen sei. Schlüssig und detailreich führt sie aus, wie die beiden bei der Geburt getrennt wurden und blinzelt verschwörerisch, als sie darauf hinweist, dass nun wohl klar sei, warum die NS-Uniformen braun waren - braun wie Scuba Candras Haut. Die Besucher schmunzeln. Gehen aus der Tür. Da hängt jetzt ein Zettel, der beim Hereinkommen noch nicht da war: "Wer nichts weiß, muss alles glauben." Kein Schmunzeln mehr.
Matthias Lilienthal schimpft später im Interview auf das Schulsystem, mehr Geld müsse da reingesteckt werden, sehr viel mehr. Wütend ist er. Und hofft, "dass es anderen Zuschauern ähnlich
ging". Vielleicht wird "X-Schulen" wiederholt, an anderen Orten, vielleicht gibt es ein neues Projekt "X-Unternehmen". Für die Hector-Peterson-Schüler, die für zwei Wochen Theaterleute waren, ist
die Schule jedenfalls aus. Was Lilienthal freut: Viele wollen die Jugendtheatergruppen des HAU besuchen.