Eine virtuelle Wand stand im Mittelpunkt eines Kongresses, zu dem die SPD-Bundestagsfraktion ins Reichstagsgebäude geladen hatte. Thema der mehrstündigen Beratungen war die Netzpolitik, „Leben und Arbeiten in der digitalen Gesellschaft“ lautete der Titel der Veranstaltung.
So eine Twitterwall ist schon etwas Feines. Es handelt sich dabei um eine Leinwand, auf die bei einer Veranstaltung alle Nachrichten („Tweets“) des Kurznachrichtendienstes Twitter projiziert werden, die mit dem vorher vereinbarte Betreffwort („Hashtag“) versehen sind. Ein Vortrag oder eine Diskussion können auf diese Weise um Kommentare und Bemerkungen des Publikums bereichert werden.
Alle können gleichzeitig diskutieren, ohne dass es zu einem unverständlichen Durcheinandergebrülle kommt, und an der Frequenz der eintreffenden Tweets lässt sich die Spannung oder eben Nichtspannung im Saal ablesen. Ohne eine solche Twitterwall wäre der netzpolitische Kongress der SPD-Bundestagsfraktion vielleicht etwas anders verlaufen.
Klarheit und Unklarheit
Keine Veranstaltung beginnt mit Vollgas. Daher ging eine apodiktische Feststellung der Bundestagsabgeordneten Christine Lambrecht im noch nicht ganz beendeten Eintreffens- und Begrüßungsgemurmel – sowohl real als auch bei Twitter – etwas unter. Dabei hatte Lambrechts Aussage die schlichte Schönheit des Klaren: „Netzpolitik ist auch Gesellschaftspolitik.“ Deutlich unklarer blieb Urs Gasser. Der monotone, vor beeindruckenden Fremdworten und Fachtermini strotzende Vortrag des Harvard-Professors entsprach seinem wenig versprechenden Titel „Gedanken zum Umgang mit Herausforderungen und Chancen der digitalen Gesellschaft.“ Die knapp 40 Minuten brachten nur wenig Erhellendes und blieben für die weiteren Gespräche folgenlos
Auch die Zuhörer im Saal und in aller Welt – der Kongress wurde via Internet-Stream übertragen – zeigten sich auf der Twitterwall von Gasser wenig beeindruckt. Der Nutzer @nordkiez twitterte: „Die Zuhörer beim #spdnetz Talk wirken...äh..entspannt, um's mal vorsichtig auszudrücken.“ Dies lang jedoch nicht an allgemeiner Lethargie, wie der Düsseldorfer Wissenschaftler Gerhard Vowe bewies. Seine Feststellung, 47 Prozent der Menschen in Deutschland könnten auch mithilfe des Internets nicht in den politischen Diskurs integriert werden, weil sie sich einfach nicht für Politik interessierten, rief lebhafte Reaktionen im virtuellen Raum hervor.
Viel Beifall erntete dagegen der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann dafür, dass er die Chancen betonte, die das digitale Zeitalter der Demokratie eröffnet, ohne die sozialdemokratische Kernfrage nach der Gerechtigkeit aus den Augen zu verlieren. Nutzerin @nele_we twitterte: „Oppermann könnte glatt zur Geheimwaffe der SPD aufgebaut werden. Argumentativ hebt er sich jedenfalls immer wohltuend ab.“
Ein Shitstörmchen im Saal
Eine Welle der Empörung im Internet wird „Shitstorm“ genannt, Sascha Lobo hat dafür die Übersetzung „Stuhlgewitter“ vorgeschlagen. Ganz so schlimm kam es nicht, doch immerhin ein Shitstörmchen war es, das Frank-Walter Steinmeier auf der Twitterwall hervorrief. Dies gelang dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion mit dem allerersten Satz seiner Rede, in dem er bekannte: „Also, ich bin kein Internet-Junkie“. Amüsiert-aggressiv reagierten die Twitterer auf diese Gleichsetzung von Internetnutzern mit Suchtkranken.
Es blieb nicht der einzige Ausrutscher: Steinmeier machte deutlich, dass er Nichtpolitiker hauptsächlich als mäßig kompetente Adressaten von Verlautbarungen sieht, gab die Auffassung zum Besten, dass Jugendliche sich im Alter von 14 bis 16 Jahren „der modernen Kommunikation annähern“ und sprach von „Blogs und sonstigen interaktiven Schüben“. Die Twitterwall arbeitete auf Hochtouren. Viele Tweets widmeten sich Einzelaspekten, Nutzerin @acwagner gelang es, die Diskussion in einem Satz zusammenzufassen: „Eindruck: 3 Herren sitzen am Strand & besprechen sehr relaxt den anrollenden digitalen Tsunami“ und „ich bin publikum. und ihr auch! die entscheider sitzen im reichstag. und die haben's schwer. so.“
SPD ist die Netzpartei
Vielleicht war es Glück, vielleicht weise Voraussicht der Veranstaltungsregie, dass Steinmeiers Auftritt nicht den Schlusspunkt des Kongresses bildete. Der war der Gesprächsrunde „Gute digitale Arbeit“ vorbehalten. Nachdem Andreas Boes, Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München, die Dinge wieder richtig gestellt hatte („Internet ist nicht einfach nur ein Medium, Internet ist ein sozialer Handlungsraum), kam in Person von Hubertus Heil der vermutlich dienstälteste Twitterer in der SPD zu Wort. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion warnte eindringlich vor „Allmachtsphantasien der Politik und der Politiker“, vor einer „Maschinenstürmerei 2.0“. Allerdings stellte Heil ebenso klar, dass neue Technik auch dazu eingesetzt werde, Menschen auszupressen. Und er brachte die Kernfrage an sozialdemokratische Netzpolitik auf den Punkt: „Wie kann man Digitalisierung und Humanisierung verbinden durch einen Ordnungsrahmen?“
Nach solch einem engagierten Plädoyer konnte Lars Klingbeil, netzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Initiator des Kongresses, eine positive Gesamtbilanz der Veranstaltung ziehen – live im Saal und via Twitter als @larsklingeil: „4.200 Leute im Stream, knapp 280 Leute im Raum. gute Debatten, wertvolle Hinweise. Danke an alle die sich eingebracht haben!“