Corona: Menschen mit Behinderung nicht aus dem Blick verlieren
Ute Grabowsky/photothek
Seit eineinhalb Monaten ist Deutschland im verschärften Corona-Lockdown. Was bedeutet diese Situation für Menschen mit Behinderung?
Die meisten Menschen mit Behinderungen haben erstmal grundsätzlich dieselben Probleme wie alle anderen auch: Sie sind eingeschränkt in ihrer Mobilität und in den Kontakten, die sie haben. Dann hängt es aber davon ab, welche Art von Behinderung oder Einschränkung vorliegt. So sind zum Beispiel diejenigen deutlich stärker vom Lockdown betroffen, die zur sogenannten vulnerablen Gruppe gehören – also Menschen, die aufgrund von Vorerkrankungen besonders gefährdet sind. Viele von ihnen leben zum Teil seit letztem März in nahezu vollständiger Isolation. In der Pandemie sehen wir, dass sich Probleme, die bereits länger bestehen, verschärfen. Deshalb ist es so wichtig, dass Entscheidungen, die zur Bewältigung der Krise getroffen werden, inklusiv getroffen werden. Wenn uns das gelingt, liegt in der Corona-Krise sogar eine Chance für die Inklusion in Deutschland.
Inwiefern?
Wenn wir uns zum Beispiel die Kommunikation ansehen, fällt mir sehr positiv auf, dass Gebärdendolmetscher*innen heute viel sichtbarer sind als zu Beginn der Pandemie. Im vergangenen Frühjahr sind viele Menschen an mich herangetreten, weil ihnen wichtige und aktuelle Informationen zu Corona fehlten, einfach, weil keine Informationen in Gebärdensprache angeboten wurden. Ähnliches galt für Angebote in Leichter Sprache. Die meisten machen sich nicht bewusst, wie wichtig solche Angebote sind, damit Menschen wissen, was um sie herum passiert. Diese Angebote haben deutlich zugenommen. Das finde ich gut, und ich hoffe sehr, dass sie nicht zurückgedreht werden, wenn wir Corona hoffentlich irgendwann hinter uns gelassen haben. Im Gegenteil: Ich wünsche mir, dass da noch deutlich mehr geschieht, unsere Kommunikation muss inklusiver werden. Das gilt im Übrigen auch für alle Parteien, auch die SPD.
Wie passt das zur Kritik von Verbänden und Einzelpersonen wie etwa Raul Krauthausen, die Anforderungen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung würden in der Pandemie von der Politik kaum wahrgenommen?
Es gibt natürlich nicht nur Licht, sondern auch Schatten. Die Frustration und die Befürchtungen vieler Menschen mit Behinderungen kann ich daher gut nachvollziehen. Für uns alle ist dieser monatelange Ausnahmezustand belastend, aber für manche wiegt er deutlich schwerer. Monatelange Isolation zu Hause, die Situation in manchen Einrichtungen, Probleme beim Zugang zur medizinischen Versorgung oder auch die Lage von Familien mit Kindern mit Behinderungen, denen zum großen Teil die Unterstützungsmaßnahmen weggebrochen sind. Die Liste lässt sich verlängern. Es ist Aufgabe der Politik, auch diese Gruppen nicht aus dem Blick zu verlieren. Allerdings teile ich die Kritik nicht, dass die Politik bei ihren Entscheidungen die Menschen mit Behinderungen vergessen würde. Meine Aufgabe besteht ja auch darin, immer wieder daran zu erinnern, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt werden.
Bei der Reihenfolge der Impfungen werden Menschen mit Behinderung größtenteils so behandelt wie Personen ohne Behinderung, auch wenn eine Covid-Erkrankung für sie die häufig deutlich schlimmeren Folgen hätte. Wie kann das geändert werden?
Das Grundproblem ist, dass es noch immer zu wenig Impfstoff gibt. Deshalb gibt es ja überhaupt eine Priorisierung beim Impfen nach bestimmten Gruppen. Nun werden nach der derzeit gültigen Impfverordnung zuerst Menschen geimpft, bei denen das Risiko eines schweren Verlaufs, oder auch zu sterben, besonders hoch ist. Das sind vor allem ältere Menschen über 80 Jahre.
Der zweite Aspekt, der bei der Reihenfolge eine Rolle spielt, ist der Versuch, Infektionscluster zu vermeiden. Dabei geht es darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Deshalb werden zum Beispiel auch Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, vorrangig geimpft, genauso wie Menschen, die dort tätig sind. Auch Pflegekräfte, die in ambulanten Pflegediensten tätig sind, werden prioritär geimpft. Diese Regelung muss aus meiner Sicht auch auf ambulante Dienste, die Assistenzkräfte für Menschen mit Behinderungen beschäftigen, angewandt werden, ganz einfach, weil beide Berufsgruppen gleichermaßen das Virus sonst von Haustür zu Haustür tragen würden. Vor dem Hintergrund der medizinischen Versorgungskapazitäten sind die Impfprioritäten also nachvollziehbar.
Was bedeutet das für die Situation von Menschen mit Behinderung?
Zur Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen ist zu sagen, dass die Ständige Impfkommission schon vor einigen Wochen empfohlen hat, Einzelfallentscheidungen zuzulassen. Dadurch sollen auch Krankheiten, die nicht in der Impf-Verordnung genannt werden, einer Priorisierungsstufe zugeteilt werden können. Allerdings wird dies bisher nur in wenigen Ländern umgesetzt. Das muss sich dringend ändern. Wenn diese Empfehlung flächendeckend umgesetzt würde, hätten auch Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, die ihrer Behinderung zugrundeliegende Grunderkrankung geltend zu machen – wenn sie das Risiko für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf in sich birgt. Die Impfverordnung wird gerade aktualisiert, und ich habe die Hoffnung, dass auch Einzelfallentscheidungen jetzt angemessen aufgenommen werden.
Auch unabhängig vom Impfen müssen aber die Schutzmaßnahmen deutlich breiter aufgestellt und aufeinander abgestimmt werden. Das haben wir als Behindertenbeauftragte von Bund und Ländern vor kurzem in einer Erklärung deutlich gemacht. So geht die Impfverordnung beispielsweise in Teilen an der Lebensrealität vieler Menschen mit Behinderungen vorbei. Denn viele von ihnen werden nicht durch Pflegedienste, sondern durch Angehörige oder Assistenzkräfte versorgt. Auch weitere Maßnahmen fehlen, da bin ich noch nicht zufrieden.
Was fordern Sie da konkret?
Ich fordere ein abgestimmtes Gesamtkonzept, das zum Beispiel Menschen, die zu einer vulnerablen Gruppe gehören, aber noch nicht geimpft werden können, prioritär, kostenlos und bürokratiearm mit medizinische Schutzmasken und Schutzausrüstung wie Desinfektionsmitteln versorgt werden. Dazu gehört auch, dass sie prioritär Schnelltests bekommen. Das alles für sich und ihre Kontaktpersonen.
Bezüglich der Impfverordnung fordere ich konkret, dass auch bei Kindern und Jugendlichen mit einem Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf nicht nur eine Kontaktperson, sondern alle Kontaktpersonen zügig geimpft werden. Denn bisher gibt es noch keinen Impfstoff, der für diese Gruppe zugelassen ist.
Für die Gleichstellungspolitik wird befürchtet, dass die Corona-Pandemie diese um Jahre zurückwerfen könnte. Befürchten Sie ähnliches bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung?
Ich erhoffe mir eher das Gegenteil. Gerade was die Barrierefreiheit angeht, könnten wir durch die Krise einen echten Schub nach vorne machen. Mit dem Konjunkturpaket unterstützt Bundesfinanzminister Olaf Scholz ja nicht nur Unternehmen und sichert Arbeitsplätze, sondern bringt auch die Infrastruktur deutlich voran. Mit diesem Geld muss auch die Barrierefreiheit vorangetrieben werden. Das ist übrigens nicht nur etwas, von dem Menschen mit Behinderung profitieren, sondern die gesamte Gesellschaft. Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes Land. Das gilt nicht nur für die Rampe vorm Haus, sondern auch für die Formulierung von Texten und die Strukturierung von Internetseiten. An der Teilhabe von Menschen bemisst sich letztlich der Zustand unserer Demokratie.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.