Corona-Krise: „Schüler*innen haben auf anderen Gebieten viel gelernt“
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Dejan Mihajlovic, anders als im Frühjahr bleiben die Schulen in diesem Teil-Lockdown offen. Ist Corona also kein Thema für Schüler*innen und Lehrer*innen?
Schule ist ja kein in sich abgeschlossenes System. Die Debatten, die in den Familien stattfinden, die Streitigkeiten, die es außerhalb gibt, haben wir auch in den Schulen. Schüler*innen haben ja ohnehin schon viele Fragen. Jetzt kommen Unsicherheiten hinzu, vor allem bei den Älteren: Wie geht es nach dem Abschluss an einer anderen Schule oder in einer Ausbildung weiter?
Betrifft das auch Lehrer*innen persönlich?
Natürlich, genau wie die Schüler*innen. Manche wollen eigentlich nicht in die Schule, weil sie beispielsweise Angst vor Infektionen haben. Das wird auch in Lehrerzimmern kontrovers diskutiert. Dazu kommen Fragen zu anstehenden Prüfungen, Versetzungen von Schüler*innen. Einige Probleme, die wir im März hatten, sind weiterhin da. Es ist nicht schwieriger geworden, aber wesentlich bessere Lösungen liegen noch nicht vor.
Wird es also tatsächlich eine „Generation Corona“ geben?
Die wird es zwangsläufig geben, allein schon, weil sie gerade prophezeit wird. Aber ich gehe nicht mit bei der Annahme, dass unsere Schüler*innen jetzt alle enorme Bildungsdefizite haben werden. Ich habe eine andere Vorstellung von Lernen, so wie viele meiner Kolleg*innen auch. Es geht nicht darum, dass es eine gewisse Menge Stoff gibt, die in die Köpfe muss und dann ist alles erreicht. So funktioniert Lernen nicht und deswegen glaube ich auch, dass die Schüler*innen nicht so viel verpasst haben. Es konnte sicher nicht inhaltlich gleich viel bearbeitet werden. Aber dafür haben sie auf anderen Gebieten viel gelernt. Das ist nur schwer zu erfassen und wurde nicht abfragt.
Covid-19 hat sicherlich Dinge verstärkt, die vorher schon da waren. Bildungsungerechtigkeit war zum Beispiel schon vorher da und ich gehe davon aus, dass die sich verstärkt hat. Wer bereits vorher zuhause besser ausgestattet war und mehr Unterstützung hatte, hat in den vergangenen Monaten da sicherlich noch stärker von profitiert und andersherum.
Gibt es etwas, was die Politik dagegen unternehmen könnte, bisher aber versäumt hat?
Es ist ja kein Geheimnis, dass im Bildungsbereich in den vergangenen Jahrzehnten viel gespart wurde. Diesen Investitionsstau kann man auch auf die Umgebung der Kinder zuhause übertragen. Wenn ich eine gerechtere Bildung haben möchte, muss ich an verschiedenen Stellen ansetzen. Das fängt in der Kita an, geht über Unterstützungsangebote Zuhause und Angebote in den Schulen bis hin zur digitalen Ausstattung. Das Geld dafür ist teilweise da, kommt aber noch immer nicht da an, wo es ankommen sollte. Und es müsste natürlich auch personell massiv aufgestockt werden. Dann könnte man in der Richtung etwas erreichen. Aber das ist natürlich eine viel langfristigere Perspektive als das, worüber aktuell gesprochen wird.
Wie sieht denn momentan Schule eigentlich aus?
Als die Schüler*innen gezwungen waren von zuhause zu arbeiten, wurde vieles überhaupt erst richtig sichtbar. Wie ist das Lernumfeld zuhause, haben die Schüler*innen ein eigenes Zimmer, einen eigenen Computer oder müssen sie sich beides mit mehreren Geschwistern teilen? Natürlich spielte das auch schon vor Corona eine Rolle, wenn Schüler*innen Hausaufgaben machen mussten. Diese Dinge sind jetzt transparenter geworden und mehr in den Fokus gerückt.
In den Schulen wurde in den vergangenen Monaten außerdem viel experimentiert – zum Beispiel mit geteilten Klassen, die zur Hälfte zu Hause, zur Hälfte in der Schule unterrichtet wurden. Da wurden teilweise völlig neue Konzepte entwickelt. Es gab viele verschiedene Entwicklungen, die sich schwer verallgemeinern lassen.
Hält denn dieser Experimentierschub an?
Das ist tatsächlich die Frage. Ich habe häufig gelesen, dass Corona jetzt der große Motor der Digitalisierung gewesen sei. Das deckt sich nicht ganz mit meinen Erfahrungen. Auf die, die sich vorher schon auf den Weg machen wollten, trifft das zu. Die haben viel versucht, gemacht, getestet. Aber an nicht wenigen Schulen, die sich vorher nicht auf diesen Weg begeben haben, sind Widerstände immer noch spürbar. Ich habe gerade erst eine Abmeldung für eine Fortbildung von einer Person bekommen, weil ich diese Fortbildung online und nicht in Präsenz durchführe. Die Online-Fortbildung wurde als weniger wertvoll angesehen. Das sind Hürden, die man nicht so schnell knacken wird.
Man konnte sogar beobachten, dass Schulen wieder in ihre alten Muster zurückgefallen sind, als der Druck durch Corona nachließ. Arbeits- und Lernprozesse waren wieder wenig bis gar nicht mehr digital. Es wurde wieder klassisch mit Präsenz, Schulbuch und Kopiervorlagen unterrichtet.
Woran liegt das?
Ich möchte hier klarstellen: Es geht nicht darum, dass alle nicht wollen. Viele können es einfach nicht, weil die Ressourcen fehlen. Für diese Entwicklung braucht man Zeit und Raum. Als Schule oder Lehrer bekommt man aber solche Aufgaben obendrauf gelegt. Die notwendigen Freiheiten, um neue Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, müssen politisch geschaffen werden.
Sehen Sie trotzdem positive Entwicklungen für die Zukunft, die auch über diese Zeit hinausreichen könnte?
Zum ersten Mal war jetzt eine breite Masse gezwungen, sich mit der digitalen Welt auseinanderzusetzen. Ich glaube, dass viele Menschen auch positive Erfahrungen gesammelt haben, Ängste ablegen und Potentiale dahinter entdecken konnten. Diese Erfahrungen können ein guter Nährboden sein für weitere Entwicklungen.
Die Technik sollte dafür genutzt werden, junge Menschen bestmöglich zu befähigen, am Leben teilhaben zu können und ein mündiges und souveränes Leben zu führen. Die Technik ist aber nur ein Element der digitalen Welt, in der die Beziehungsarbeit weiterhin das Zentrale bleibt. Die Schüler*innen müssen auch dort immer im Mittelpunkt stehen.
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