Chancenungleichheit: Für den DIW-Chef ist die soziale Marktwirtschaft kaputt
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Es ist mehr als nur eine Empfindung: Eine Minderheit in Deutschland besitzt immenses Vermögen, während sich der Rest mit deutlich weniger zufriedengeben muss. Diese Annahme ist nicht nur in der Bevölkerung weit verbreitet, sondern auch mit Statistiken belegt. „Das Gefühl ist kein Hirngespinst“, sagt Marcel Fratzscher, Päsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), auf dem Armutskongress in Berlin. In Deutschland sei das Vermögen extrem ungleich verteilt. „Die Ungleichheit ist das Resultat einer nicht mehr funktionierenden sozialen Marktwirtschaft“, folgert er in einem Vortrag mit dem Titel „Brauchen wir ein Maß an Ungleichheit?“
Undurchlässiges Schulsystem
Die Ursache für diese Entwicklung sieht Fratzscher in fehlender Chancengleichheit. „Für Frauen und Migranten existiert sie praktisch nicht.“ Auch entscheide die Herkunft über den Lebens- und Berufsweg. Wer beispielsweise in eine Familie mit geringem Einkommen geboren wurde, dem bliebe eine gute Ausbildung, eine gut bezahlte Stelle oder ein erfülltes Berufsleben oft verwehrt. Es gebe große Hürden für den gesellschaftlichen Aufstieg, so der DIW-Chef. Dazu trage beispielsweise auch das Schulsystem bei, das undurchlässig sei.
Gravierend ist die Chancenungleichheit laut Fratzscher auch für Frauen. Im Vergleich zu Männern seien sie besser qualifiziert und besser ausgebildet, auf dem Arbeitsmarkt jedoch müssten sie sich mit weniger Gehalt zufriedengeben.
Besser kein Ausbau des Sozialstaats
Diese Ungleichheit führe zu einem „riesigen“ Nachteil für die Gesellschaft und für die Wirtschaft. „Wenn die Menschen ihre Talente nicht entwickeln und nicht einbringen können, schadet das uns allen.“
In der häufig geforderten Umverteilung des Vermögens sieht Fratzscher nicht die beste Lösung für das Problem. Auch den Ausbau des Sozialstaates befürwortet er nicht. „Ein Mensch, der Hartz IV bezieht, möchte nicht noch mehr vom Staat abhängig werden, sondern Chancen bekommen“, sagt er. „Den Sozialstaat auszubauen steht für ein Scheitern der sozialen Marktwirtschaft.“
Mehr Betreuung, mehr Förderung
Chancengleichheit bedeute jedoch, dass sich jeder Mensch seine Talente entwickeln und einbringen könne. Deswegen müsse laut Fratzscher massiv in frühkindliche Bildung investiert werden, genauso in Angebote für Kinder, die eine besondere Förderung benötigen. Gleichzeitig möchte der DIW-Präsident in die öffentliche Infrastruktur investieren. Das könnten beispielsweise Betreuungsmöglichkeiten sein, dank derer die Eltern arbeiten gehen können.
Um mehr Chancengleichheit zu erreichen, skizzierte Fratzscher das Konzept eines Lebenschancenkredites. Dabei erhält jeder 18-Jährige beispielsweise 20.000 Euro, die er in Auszeit, Bildung, Selbstständigkeit oder einen früheren Ruhestand investieren könne. Wichtig daran ist laut dem DIW-Chef, dass der Staat jedem Menschen einen Anspruch garantiere, das Leben selbstbestimmt gestalten zu können. „Auf diesem Weg verschwindet die Ungleichheit nicht, aber sie wird weniger“, ist er sich sicher.
Unvermeidbare Ungleichheit
Eines machte der DIW-Präsident zu Beginn seines Vortrages klar: „Ungleichheit ist an sich nichts Gutes und nichts Schlechtes.“ Wenn jeder Mensch über das eigene Leben hinsichtlich Zeit oder Bildung frei entscheiden könne, sei das Resultat immer Ungleichheit. Dies führe zu einer ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen. Aber: „Die Frage ist nicht, wer wie viel besitzt, sondern was die Menschen mit ihrem Vermögen machen.“