Inland

Bunt, stark, innovativ: Dagmar Ziegler zeigt ostdeutsche Vielfalt

Kreativ, vielfältig, innovativ – das alles kann Ostdeutschland sein, ist Dagmar Ziegler überzeugt. Die Bundestagsvizepräsidentin tourt derzeit durch Städte und Regionen, trifft engagierte Menschen. Sie will so auch den Blick auf „den Osten“ ändern.
von Benedikt Dittrich · 11. August 2021
Innovation made in Thüringen: Bundestagsvizepräsidentin Dagmar Ziegler(SPD) im Gespräch mit Holger Becker von „microfluidic Chipshop" in Jena.
Innovation made in Thüringen: Bundestagsvizepräsidentin Dagmar Ziegler(SPD) im Gespräch mit Holger Becker von „microfluidic Chipshop" in Jena.

Beim letzten Termin an diesem Tag wird es noch einmal ernst. Ein Kleingartenverein gegen die Stadt, Grünflächen gegen Wohnungsbau. Es geht um den Schutz der grünen Oasen in Jena gegen den Wunsch, mehr Wohnraum zu schaffen. Die Kleingärtner*innen sprechen von schlechter Kommunikation, sind frustriert über die Parteien im Stadtparlament von Jena. „Die haben kein Ohr für uns“, ist unter anderem zu hören.

Doch Dagmar Ziegler hört zu. Sie ist zwar weder Bürgermeisterin von Jena, noch kann die Ostdeutsche den Menschen viel versprechen. Doch zuhören, das kann die Bundestagsvizepräsidentin und gebürtige Leipzigerin. Sie kennt die Auseinandersetzungen. Die, die 1990 in Lenzen in der Prignitz den SPD-Ortsverein mitgründete, deren politische Laufbahn in der Stadtverordnetenversammlung begann und sie bis ins Ministeramt in Brandenburg, später in den Bundestag führte. Auch als Bürgermeisterin kennt sie die Auseinandersetzungen um Flächen für Grundstücke und Gärten. „Ich bin im Kleingarten aufgewachsen“, sagt Ziegler den Kleingärtner*innen „Am Jenzig“. Die Kleingartenkolonie schmiegt sich an den gleichnamigen Hügel nordöstlich vom Jenaer Stadtzentrum.

Zwischen erklären, vermitteln und zuhören

Das Interesse, Teile der Gartenkolonie zu Bauland zu machen, scheint bei der Stadt groß zu sein. Zumal der Wohnraum in Jena knapp ist: Auch bei Zieglers anderen Stationen wird von einem angespannten Wohnungsmarkt gesprochen. Jena ist mit der Universität und den Forschungsinstituten eine beliebte, lebendige, kreative Stadt, berichten ihr die Menschen.

Ziegler, Jahrgang 1960, 60 Jahre alt, scheidet in diesem Jahr allerdings aus der Bundespolitik aus, sie kandidiert nicht mehr. Dennoch ist es ihr bis dahin als Bundestagsvizepräsidentin noch ein wichtiges Anliegen, den Osten präsenter zu machen, die guten Entwicklungen und die Vielfalt zu zeigen, das betont sie immer wieder. Als SPD-Abgeordnete im Bundestag vertritt sie bis Ende September noch die Region Prignitz im Westen Brandenburgs. Sie diente im Kabinett von Manfred Stolpe als Finanz-, später für Matthias Platzeck auch als Sozialministerin des Bundeslandes, bevor sie 2013 in den Bundestag einzog. 2020 übernahm sie das Amt der Bundestagsvizepräsidentin, nachdem ihr Vorgänger Thomas Oppermann überraschend verstorben war.

In dieser überparteilichen Position bereist sie in diesen Wochen die ostdeutschen Bundesländer. In Thüringen ist es ihr zweiter Aufenthalt, in Weimar, Erfurt und Altenburg war sie bereits im Juni. Während andere nur über „den Osten“ und seine negativen Seiten sprechen, trifft sich Ziegler vor Ort mit Kulturschaffenden, mit Bürgerinitiativen, mit Unternehmen und Vereinen, zeigt, wie vielfältig das Engagement vor Ort ist. In Jena sind das in Person dann Jonas Zipf von „Jena Kultur“, Barbara Albrethsen-Keck von der Bürgerstiftung oder Holger Beck vom Medizintechnik-Unternehmen „Microfluidic Chipshop“ – und eben die engagierten Kleingärtner*innen in Jena.

Engagement vor Ort stärken und zeigen

„Ich möchte den Menschen den Rücken stärken, die sich für Weltoffenheit, für Toleranz einsetzen“, erklärt Ziegler den ehrenamtlichen Helferinnen der Bürgerstiftung, die ihr am Dienstag gegenübersitzen. Die Bürgerstiftung in Jena vernetzt Kreative und Immobilienbesitzer*innen, vermittelt engagierter Bürger*innen an Vereine, organisiert Bildungsprojekte in Schulen und Kitas und vieles mehr. „Es ist jedes Mal ein Kampf, das Geld für unsere Projekte zusammenzubekommen“, sagt die Vorsitzende Albrethsen-Keck.

Den Wunsch, solche Projekte längerfristig zu fördern, teilt Ziegler mit den Ehrenamtlichen. „Es ist ja genau das Problem“, meint sie – als Finanzministerin in Brandenburg gehörte es für sie zu den leidvollen Erfahrungen, wenn sie die Förderung solcher Projekten streichen musste, weil kein Geld mehr da war. Ihr Wunsch: Solche Fördermittel nicht mehr als freiwillige Leistungen einzustufen. Denn letztendlich gefährde das auch die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt und schade auch dem Ansehen der demokratischen Parteien.

Oder die andere Art der Fördermittel, die sich ostdeutsche Unternehmen wünschen: die wirtschaftliche. Holger Becker von „microfluidic chipshop“ kritisiert fehlende Fördermittel und Bürokratie, wenn es um Innovation geht. Gleichwohl: Der Unternehmer hat es geschafft in Jena ein wachsendes Unternehmen aufzubauen, wettbewerbsstark und exportorientiert. „Wir könnten auf dem Gelände insgesamt acht Gebäude errichten“, sagt er Ziegler, das dritte befinde sich bereits im Bau. Das Unternehmen fertigt für andere Hersteller unter anderem sogenannte „Lab on a chip“.

Fortschritt „made in Thüringen“

„Darin befindet sich alles, was man für einen PCR-Test benötigt“, erklärt Becker und hält eine Art große Plastik-Chipkarte in die Höhe. Mit den Produkten, die in Jena hergestellt werden, können vor Ort Labortests durchgeführt werden – ohne Proben zu verschicken und unnötig lange auf das Ergebnis warten zu müssen. Ein Wachstumsmarkt, versichert Becker. Insgesamt fehle bei der Förderung solcher Innovationen auf Bund- und Länderebene, aber insgesamt auch in der EU „der Wumms“, erklärt er auf Nachfrage von Ziegler. Also vor allem: Das Geld, um aus einer guten Idee ein gutes Produkt zu machen. Becker bewirbt sich auch um ein Bundestagsmandat für die SPD, als Ortsteilbürgermeister ist er in Jena-West bereits politisch aktiv.

Die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft, ehrenamtliches Engagement, beides gibt es eben auch in Thüringen – das weiß Dagmar Ziegler. Doch sie ist dennoch beeindruckt. Und es ist für sie auch der Beweis dafür, was alles möglich ist, was entstehen kann. Statt bei den anstehenden Bundestagswahlen den Parteien nur einen Denkzettel verpassen zu wollen, hofft sie stattdessen auf noch mehr Engagement, mehr Kreativität. „Macht was, statt in der Ecke zu sitzen und zu schimpfen“, appelliert sie an die Mitbürger*innen. Dass daraus etwas Großartiges werden kann, zeigt Holger Becker: „Microfluidic Chipshop“ wurde 2002 gegründet, inzwischen beschäftigt das Unternehmen rund 100 Mitarbeiter*innen, Tendenz steigend.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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