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Bundesweite Volksentscheide: „Die SPD sollte das Thema nicht der AfD überlassen“

Das Thema direkte Demokratie könnte in den kommenden Jahren eine große Rolle spielen. Ein Bündnis aus 36 Organisationen fordert deshalb, die Einführung des bundesweiten Volksentscheids in einen möglichen Koalitionsvertrag aufzunehmen. Dieser würde das Vetrauen in die Demokratie wieder stärken, meint Ralf-Uwe Beck von Mehr Demokratie e.V.
von Kai Doering · 2. Januar 2018
Unterschriften Bundesparteitag
Unterschriften Bundesparteitag

Auf dem SPD-Parteitag im vergangenen Dezember haben Sie Fraktionschefin Andrea Nahles und Generalsekretär Lars Klingbeil 270.000 Unterschriften überreicht. Worum ging es dabei?

Es geht um die größte Demokratie-Baustelle, die wir in Deutschland haben: die direkte Demokratie auf Bundesebene. Ein Bündnis mit 36 Organisationen aus der Zivilgesellschaft fordert, die Einführung des bundesweiten Volksentscheids in den Koalitionsvertrag der neuen Regierung aufzunehmen. Wir haben eine Passage für den Koalitionsvertrag formuliert und dazu eine Unterschriftensammlung gestartet. Seit dem Wahltag haben mehr als 270.000 Menschen unterzeichnet.

Warum wären bundesweite Volksentscheide aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Soll alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen, wie uns das Grundgesetz verspricht, müssen die Bürgerinnen und Bürger auch zwischen den Wahlen die Möglichkeit haben, Themen auf die politische Tagesordnung zu bringen und politische Entscheidungen zu korrigieren. Sie müssen also jederzeit das erste und das letzte Wort haben können. Dies ist als Demokratieprinzip in allen Bundesländern anerkannt. Ohne Ausnahme bieten die Länderverfassungen die direkte Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie. Die einstigen Vorbehalte, dies könne die parlamentarische Demokratie untergraben, haben sich längst aufgelöst. Es braucht ein verbindliches Instrumentarium, ein Gummiband, mit dem wir die, die wir gewählt haben, an unsere Interessen zurückholen können. Das ist die direkte Demokratie. Auf Bundesebene fehlt das Prinzip. Soll Vertrauen in die demokratischen Institutionen wieder wachsen, müssen wir diese Lücke schließen. Perspektivisch wird das die Kluft zwischen Gewählten und Wählerschaft schmälern, die repräsentative Demokratie stärken.

Über welche Themen sollte aus Ihrer Sicht per Volksentscheid abgestimmt werden?

Diese Frage beantwortet sich gewissermaßen selbst – im Verfahren der direkten Demokratie. Der Flaschenhals auf dem Weg zu einer Abstimmung ist die zweite Stufe, das Volksbegehren. Hier muss eine Initiative, die ihren Reformvorschlag zum Gesetz werden lassen will, nachweisen, dass die Bevölkerung eine Abstimmung – nun ja, eben: begehrt. Dass jemand „von oben“ einen Volksentscheid ansetzt, ist nicht die direkte Demokratie, für die wir eintreten. Volksentscheide „von oben“ sind missbrauchsanfällig: Die Regierung formuliert die Frage, legt den Abstimmungstermin fest, Alternativen werden weder diskutiert noch zur Abstimmung gestellt. So haben Volksentscheide nur noch akklamierende Funktion und sind ein Einfallstor für Populismus. Gerade die Volksentscheide, die offensichtlich auch viele in der SPD verunsichert haben – der Brexit und der Volksentscheid zu Flüchtlingsfragen in Ungarn –, kamen „von oben“. Die direkte Demokratie gehört in die Hände der Bürgerinnen und Bürger.

Gegner von Volksentscheiden argumentieren, dass sich am Ende die Argumente derjenigen durchsetzen, die mit Geld PR kaufen können. Wie schätzen Sie diese Gefahr ein?

Es gab bisher auf Landesebene 23 Volksentscheide. Ein Trend, dass hier das große Geld im Spiel sein soll, um Initiativen durchzusetzen, lässt sich nicht ablesen. In der Regel fehlen den Initiativen eher die Mittel. Wichtig ist, dass die direkte Demokratie nicht vom Geld abhängt. Hier gibt es zwei Stellschrauben, die sich gesetzlich fixieren lassen: Es sollte Veröffentlichungspflichten geben, damit die Bürger wissen, wer die Initiative finanziert. Es braucht sowieso eine Abstimmungsbroschüre, in der die Pro-und-Contra-Positionen stehen, die vor dem Volksentscheid an alle Haushalte geschickt wird. Zudem sollte es eine Kostenerstattung für Initiativen geben, damit wirklich alle Menschen, nicht nur die, die es sich leisten können, die Instrumente nutzen können.

Warum sollte sich gerade die SPD für bundesweite Volksentscheide einsetzen?

Die SPD hat die direkte Demokratie in ihrem Reformrucksack seit dem Eisenacher Parteitag von 1869. Sie ist die Partei in Deutschland mit der längsten Tradition, die direkte Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie zu fordern. Konsequenterweise war sie in den letzten 20 Jahren an fast allen Reformen zum Ausbau der direkten Demokratie in den Ländern beteiligt. Die Beschlusslage zur Bundesebene ist eindeutig und der Gesetzentwurf der SPD von 2013 ist der beste, den wir bisher für die Einführung des bundesweiten Volksentscheids gesehen haben. Bitte weiter so! Auf keinen Fall sollte die SPD der AfD das Thema überlassen, sondern sich für eine Vorwärtsverteidigung der Demokratie einsetzen. Das hat auch eine soziale Dimension. Eine volkswirtschaftliche Studie zur Praxis in der Schweiz hat Parlamentsentscheidungen mit Volksentscheiden verglichen. Der bekannte Ökonom Reiner Eichenberger kommt zu dem Ergebnis, dass die Parlamente reichenfreundlicher entscheiden als die Bürger selbst.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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