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Brandt-Rede von Steinmeier: „Die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen“

Die Willy-Brandt-Rede ist ein gesellschafltliches Ereignis in Lübeck. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war am Dienstag der neunte Redner, der in Erinnerung an den Friedensnobelpreisträger sprach. Er schlug einen Bogen von 1968 bis zum Umgang mit populistischen Bewegungen heute.
von Susanne Dohrn · 31. Oktober 2018
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Im Saat ist nahezu jeder Platz besetzt. Wochen zuvor haben sie sich angemeldet, mit Adresse, Geburtsort und -datum. Es gelten strenge Sicherheitsvorkehrungen, denn die Willy-Brandt-Rede in der Lübecker Musik- und Kongresshalle hält in diesem Jahr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Rede ist in Lübeck ein gesellschaftliches Ereignis. 2018 findet sie zum neunten Mal statt. Die erste hielt 2009 Erhard Eppler. Mit ihrer Anwesenheit ehren die Lübecker auch den großen Sohn ihrer Stadt: Willy Brandt wurde hier 1913 geboren. Innerhalb von 48 Stunden waren alle 1500 Karten vergeben. Es gibt sie selbstverständlich kostenlos. Gastgeber sind das Willy-Brandt-Haus in Lübeck und die Stadt Lübeck. 

Das mahnende Motto des Abends

„Demokratie und Solidarität sind keine Selbstverständlichkeit, wir müssen uns dafür immer wieder einsetzen“, mahnt Wolfgang Thierse, Vorsitzender der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in seiner Begrüßung. Der Satz schwingt als mahnendes Motto des Abends mit. „Demokratie will und muss gelebt werden“, so Thierse, und dafür stehe Frank-Walter Steinmeier qua Amt und als Person.

Der ist an diesem Abend zuständig für die langen Linien, vor allem die, die 1968 begannen. „Was können wir festhalten, mit dem Abstand von 50 Jahren“, fragt Steinmeier, der 1968 zwölf Jahre alt war und, wie er sagt, „schon aus Altersgründen nicht zum Revolutionär taugte“. Gleichwohl habe er den gesellschaftlichen und politischen Wandel gespürt, der die Zeit erfasst hatte: Zugang zu Bildung, gesellschaftliche und politische Teilhabe. „Ich er war der erste in meiner Familie, der Abitur machte und studieren konnte“, erzählt er und spricht damit für viele seiner Generation.

Von Heinemann zu Brandt

„Überall müssen Autorität und Tradition sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung gefallen lassen.“ So hatte Bundespräsident Gustav Heinemann die Herausforderungen der damaligen Zeit bei seinem Amtsantritt 1969 formuliert. Weil heute, wenn auch anders als 1968, Autoritäten, Institutionen und Selbstverständlichkeiten der liberalen Demokratie in Frage gestellt werden, stellte der Bundespräsident den Satz an den Anfang seiner Rede, um dann sehr schnell doch zu Willy Brandt zu kommen.

Das politische Potenzial von 1968 habe sich vor allem in den Reformen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt entfaltet und in der parlamentarischen Arbeit im Deutschen Bundestag, so Steinmeier. „Mehr Demokratie wagen“, wie es Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 formuliert hatte, sollte heißen: „Seid mutig und löst ein, was das Grundgesetz euch verspricht!“ Demokratie als Versprechen, das gelte auch heute, und es richte sich an immer neue Generationen: „an junge Menschen, an Schüler, Auszubildende, Studenten – und auch an die, die als Zugewanderte Deutsche geworden sind“. Ihnen besonders rief er, begleitet vom Applaus der Zuhörer, zu: „Es steht euch genauso zu wie allen andern!“

Keine Ewigkeitsgarantie für die Demokratie

„Mehr Demokratie wagen“, Was damals als Signal des Aufbruchs wahrgenommen wurde, als Versprechen und Verheißung, beinhalte aber auch ein Moment von Unsicherheit und Risiko. Wer etwas wagt, kann scheitern, und Willy Brandt wusste, dass Demokratie scheitern kann, dass eine Demokratie nur so stark sein kann, wie die Bürger die sie tragen, erinnerte der Bundespräsident. Auch 2018 sei unsere Demokratie mit keiner „Ewigkeitsgarantie“ versehen. Das gelte gerade in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Polarisierung, in denen Populisten „Kompromissbereitschaft als Schwäche abtun“ und die das „Wir“ als die Verlängerung des „Ich“ ansähen.

„Von denen, die die Parteiendemokratie bereits abgeschrieben haben, habe ich jedenfalls noch keine wirklich überzeugenden Lösungen gehört, wie die Übersetzung von gesellschaftlicher Dynamik in politische Kompromissbildung und Verantwortung anders und besser zu bewerkstelligen ist.“ Der Bundespräsident schloss mit einer Mahnung an die Volksparteien, alte Strukturen zu öffnen für neue gesellschaftliche Realitäten. Ihre Aufgabe sei es „auch heute wieder glaubhaft und mitreißend Zukunft zu entwerfen“. Es gelte also, einiges zu „wagen“. Steinmeier: „Das muss uns keine Angst einjagen. Im Gegenteil: Die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen.“

Die Rede von Frank-Walter Steinmeier kann hier im Wortlaut nachgelesen werden.

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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