Boris Pistorius: „Jetzt muss schnell gehandelt werden!“
Dirk Bleicker
Boris Pistorius, der Skandal um massenhaft fehlerhafte Asylbescheide und kriminelle Machenschaften beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weitet sich immer weiter aus. Wie ist ihre aktuelle Bewertung des Falles?
Wichtig ist jetzt, dass tatsächlich alles auf den Tisch kommt und das Bundesinnenministerium anhand dieser Informationen analysiert, was getan werden muss, um das BAMF als Behörde zukünftig so aufzustellen, dass die Fehlerquote äußerst gering ist, sie personell qualitativ und quantitativ angemessen ausgestattet ist und zukunftssicher arbeiten kann. Ich erwarte von Horst Seehofer, dass er diesen Prozess als Chefsache und mit höchster Priorität behandelt, wie er es vor dem Innenausschuss versprochen hat.
In einer Sondersitzung hat der Innenausschuss des Bundestages zentrale Verantwortliche befragt. Welches Zwischenfazit ziehen Sie?
Ich sehe zumindest den Willen, die Probleme ernsthaft anzugehen. An seinen deutlichen Aussagen im Ausschuss wird sich Horst Seehofer messen lassen müssen. Jetzt muss er dafür sorgen, dass alles auf links gedreht und seriös und intensiv untersucht wird, damit das BAMF endlich so arbeiten kann, wie wir es von so einer wichtigen Behörde erwarten können.
Sind Sie mit der bisher gezeigten Aufklärungsbereitschaft zufrieden?
Die inneren Vorgänge im BMI insbesondere im April waren nach allem, was ich darüber gehört habe, nicht optimal. Entscheidend ist, wie gesagt, dass sich jetzt tatsächlich etwas ändert. Markige Worte sind das eine, jetzt muss dementsprechend gehandelt werden.
Aus der Opposition wird die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Bundestag gefordert. Die SPD ist hier zurückhaltend. Warum?
Zunächst einmal ist das eine Frage, die ich selbst nicht mitzuentscheiden habe, sondern ausschließlich die Parlamentarier des Bundestages. Von außen betrachtet geht es mir darum, dass sämtliche Problematiken und Defizite im Zusammenhang mit dem Betrieb und der Organisation des BAMF jetzt schnell und gründlich vom Bundesinnenminister angegangen werden. Ein Ausschuss ist zwar zweifellos gründlich, ob er aber auch ausreichend schnell sein würde, lasse ich an dieser Stelle einmal offen.
Viel Kritik konzentriert sich auf die Chefin des BAMF Jutta Cordt. Fordern Sie personelle Konsequenzen an der BAMF-Spitze?
Ich bin nicht in der Position, so etwas zu formulieren. Aber offenbar gab es an der Spitze des BAMF – auch seit Jutta Cordt Anfang 2017 im Amt war – einige Vorgänge, die man jetzt hinterfragen muss. Daraus muss der Bundesinnenminister als ihr Vorgesetzter natürlich seine Schlüsse ziehen und entscheiden, mit wem er die Zukunft des BAMF gestalten will.
Wie bewerten Sie das Agieren von Horst Seehofer als dem verantwortlichen Bundesminister?
Ich nehme wahr, dass er jetzt sehr offensiv formuliert hat, sich der Aufgabe stellen zu wollen. Jetzt ist wichtig, dass er das konsequent umsetzt. Daran wird er zu messen sein.
Spielten in den nun diskutierten Fällen nicht der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière und der damalige Flüchtlingskoordinator von Angela Merkel, Bundesminister Peter Altmeier, eine viel größere Rolle?
Klar ist, dass beide im Wesentlichen in dem fraglichen Zeitraum die politische und operative Verantwortung getragen haben. Zu den Aufgaben des Bundesinnenministers gehört in der Analyse auch, das zu überprüfen. Klar ist: Die unfassbaren 55 Millionen Euro Steuergelder, die der damalige Leiter des BAMF Frank-Jürgen Weise für Berater ausgegeben hat, sind offensichtlich nicht nur verpufft, sondern haben zu einer Mentalität geführt, möglichst viel zu entscheiden. Dabei ist die Qualität in den Keller gegangen, was man nun nicht einfach den Mitarbeiten in die Schuhe schieben kann. Es wurde offensichtlich eine Kultur gefördert, Kritiker abzukanzeln, um bloß nicht den Abbau der Fälle zu gefährden. Frank-Jürgen Weise hätte sich lieber von seinen Mitarbeitern beraten lassen sollen. Zur Wahrheit gehört außerdem, dass Minister Thomas de Maizière bereits lange vor der Flüchtlingskrise versucht hat, das BAMF personell deutlich aufzustocken, was der damalige Finanzminister stets abgelehnt hat. Zu diesem Thema gab es im Jahr 2014 sogar eine Sitzung aller Innenminister im BMI, um diese Forderungen zu unterstützen – strategische Fehlentscheidungen mit dem fragwürdigen Ziel eines „schlanken Staates“, die sich später gerächt haben.
Die politische Gesamtverantwortung für die nun ans Licht kommenden Fehler der Flüchtlingspolitik trägt natürlich das Bundeskanzleramt – und hier letztlich die Kanzlerin selbst. Beide halten sich in der Affäre aber sehr bedeckt, als ginge sie das Ganze nichts an. Akzeptieren Sie dieses Abtauchen?
Ich denke, dass viele Deutsche – ich selbst eingeschlossen – von der Kanzlerin erwarten, sich dazu einmal konkret zu äußern.
Welche konkreten inhaltlichen Konsequenzen für die Flüchtlingspolitik fordern Sie nach den bisher bekannt gewordenen Missständen?
Das ist ein weites Feld, und es ist auch schon sehr viel passiert. Ich möchte daran erinnern, mit welchem Kraftakt wir – damit meine ich alle Bürger in diesem Land, die Behörden, die Ehrenamtlichen, auch Feuerwehr, THW und Bundeswehr – es vor allem im Herbst und Winter 2015 geschafft haben, Menschen aufzunehmen, ohne dass jemand bei Minusgraden auf der Straße schlafen musste. Was jetzt wichtig ist, ist, dass die Arbeit im Bereich Flüchtlinge und Asyl von den Behörden absolut seriös und rechtsstaatlich erledigt wird. Das muss das oberste Ziel in dieser Frage sein, damit auch den Rechtspopulisten, die immer noch von dem diffusen Kontrollverlust 2015 profitieren, der Wind aus den Segeln genommen wird.