Bildungsforscher Klaus Zierer: „Schulen müssen demokratisch werden“
In Ihrem neuen Buch „Demokratie in die Köpfe“ beklagen Sie einen Mangel an Erziehung zur Demokratie an Schulen in Deutschland. Bildungskrise und Demokratiekrise würden einander bedingen. Wie demokratiefähig sind junge Menschen, die die Schule verlassen?
Das Vertrauen in die Institutionen geht in der nachwachsenden Generation seit Jahren zurück. Und damit auch die Demokratiefähigkeit. Es gibt allerdings Unterschiede zwischen sozialen Milieus. Das zeigen Erhebungen.
Wie wirkt sich die schwindende Demokratiefähigkeit aus?
Die Wahlbeteiligung in dieser Altersgruppe sinkt. Bei der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung lassen sich Verschiebungen feststellen. Etwa, wenn man fragt: Interessieren sich junge Leute für Themen, die in breiter Öffentlichkeit diskutiert werden? Nutzen sie Leitmedien oder lesen sie eine Tageszeitung? Oder informieren sie sich in Sozialen Medien, die außerhalb eines nachrichtlichen Segments Themen aufgreifen? Für uns als Gesellschaft ist das eine Herausforderung.
Die Kultusministerkonferenz hat 2018 eine Empfehlung verabschiedet. Demokratie sei Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Hat sich seitdem in Sachen Demokratieförderung etwas getan?
Diesen Eindruck habe ich nicht. Jeder hält Demokratiebildung für wichtig. Aber es fehlen systematische Strukturen. Stattdessen gibt es Präambellyrik.
Sie sagen, in einer Demokratie müssen auch Schulen demokratisch sein. Was macht eine demokratische Schule aus?
Themen der Gesellschaft müssen auch Themen der Schule sein. Debatten wie über Nachhaltigkeit oder Aufrüstung dürfen nicht am Schultor enden. Wir müssen dafür strukturelle Räume schaffen. Bislang sind Lehrpläne nur auf bestimmte Fächer ausgerichtet und wenig handlungsorientiert, vernachlässigt werden interdisziplinäre Zugangsweisen mit echtem Handlungsspielraum, wie sie für aktuelle Themen kennzeichnend sind. Dafür gibt es wirksame Strukturen, wie zum Beispiel Schülerparlamente, in denen junge Leute auch über Themen sprechen können, die sie mitgestalten möchten. So lernen Kinder frühzeitig, was es heißt, demokratisch aktiv zu sein. An vielen Schulen ist die Angst vor solchen Mitgestaltungselementen aber groß.
Sie diagnostizieren eine pädagogische Klimakrise. Welche Gefahren gehen davon für die Demokratie aus?
Mit einem sinkenden Bildungsniveau geht auch die Demokratiefähigkeit zurück. Das zeigt sich am rückläufigen Trend beim ehrenamtlichen Engagement, bei der Wahlbeteiligung und dem Vertrauen in Institutionen. Diese Entwicklung ist seit gut zehn Jahren empirisch belegt. Die PISA-Studien waren wichtig, doch Schulen schielen zu sehr auf naturwissenschaftliche, mathematische und muttersprachliche Kompetenzen. Themen werden zu isoliert betrachtet. Demokratiebildung und Wertevermittlung kommen zu kurz. Herz und Charakter bleiben außen vor.
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition heißt es, man unterstütze zivilgesellschaftliches Bildungsengagement und die Einbindung außerschulischer Akteure. Wie zufrieden sind Sie mit den bildungspolitischen Ambitionen der Bundesregierung?
An solchen Ambitionen hat es noch keiner Regierung gemangelt. Oft bleibt es bei Lippenbekenntnissen. Mitunter sind Umsetzungsstrategien für an sich richtige Maßnahmen rein ideologiegetrieben und somit problematisch. Ein aktuelles Beispiel: Die IGLU-Studie hat ergeben, dass ein Viertel der Lernenden Mindeststandards nicht erfüllt. Das Entsetzen aufseiten der Politik war groß. Als erster Schritt wurde beschlossen, für mehr Leseunterricht zu sorgen. Mehr Leseunterricht bedeutet aber nicht automatisch mehr Lesekompetenz. Wichtiger als die Quantität von Unterrichtsstunden ist die Qualität.
Welche Schritte sollten Bund und Länder schnell auf die Schiene bringen, um die Demokratiebildung zu verbessern?
Es gibt eine strukturelle Ebene: Wir brauchen flächendeckend Schülerparlamente. Auf unterrichtlicher Ebene gibt es wirksame Methode, wie die Dilemma-Diskussion: Themen, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, werden im Unterricht ebenso kontrovers eingebracht. Auch Epochenunterricht wäre sinnvoll: Das bedeutet, dass sich Lernende mehrmals im Schuljahr für eine Woche fächerübergreifend einem bestimmten Thema widmen und dieses dann nicht nur fachlich, sondern auch interdisziplinär beleuchten und überlegen, was vor Ort getan werden kann.
Auch die Ebene des Individuums ist wichtig: Jenseits der klassischen Stoffvermittlung müssen moralisches Bewusstsein und Urteilsfähigkeit herausgebildet werden. All das ließe sich von heute auf morgen umsetzen.
Angenommen, Sie wären in politischer Verantwortung und hätten umfassende Kompetenzen. Was würden Sie von heute und morgen am Schulsystem ändern?
Im ersten Schritt müsste man die Lehrpläne umbauen. Sie sind überholt und zu voll. Mit einem neuen strukturellen Rahmen hätten Lehrkräfte ganz andere Möglichkeiten. Wir brauchen weniger Wissensvermittlung und mehr Bildungsanspruch. Es braucht mehr Freiräume für humanistische Bildung.
Man hört von Rassismus, Ausgrenzung von Andersdenkenden durch Rechtsextremist*innen und Hakenkreuzschmierereien an Schulen, zuletzt in Brandenburg. Ist die Demokratie als Lebensform dort gescheitert?
„Gescheitert“ klingt hart. Richtig ist aber: Demokratie als Lebensform ist kein Selbstläufer. Wir müssen uns um unsere Demokratie kümmern. Bildung ist dafür entscheidend. Sie ist ein lebenslanger Prozess. Der ist nicht geradlinig, es gibt Fort- und Rückschritt. Man muss aus solchen Phänomenen lernen und sich fragen, was sie für die Schule und das Bildungssystem bedeuten. Man muss auch die gesamtgesellschaftliche Verantwortung in den Blick nehmen und ins Bewusstsein rücken, dass Eltern immens wichtig für Bildungsprozesse sind. Eltern müssen mitgenommen und gestärkt werden.
Es gibt Schulen, an denen Elternarbeit neu gedacht wird. Je früher wir Kinder und ihre Eltern erreichen, desto stärker profitiert die gesamte Gesellschaft. Eine entscheidende Nahtstelle ist die Digitalisierung. Sie eröffnet viele Möglichkeiten, bringt aber auch Gefahren mit sich. Diese neue Form der Öffentlichkeit beeinflusst unser Demokratieverständnis. Auch dieses Thema muss man im pädagogischen Kontext anpacken.
„Erziehung zu Untertanen“, kaum Gemeinschaft, fast keine Feste und Klassenfahrten: Ist das Bild von Schule, dass Sie in dem Buch zeichnen, nicht etwas einseitig? Sie haben selbst als Grundschullehrer gearbeitet.
An meiner Grundschule war ich die einzige Lehrkraft, die mit den Kindern Schlitten oder ins Schullandheim gefahren ist. Keines meiner drei Kinder (das älteste ist im achten Schuljahr), die in Bayern zur Schule gehen, hat bislang eine Klassenfahrt gemacht.
Bei der Demokratiebildung sieht es nicht besser aus. Ich habe meinen Sohn gefragt, wie sie im Unterricht aktuelle Konflikten thematisieren. Er hat erzählt, ein Junge mit russischen Wurzeln sei nach Beginn des Ukrainekrieges von einer Lehrperson so niedergemacht worden, dass er weinend aus dem Klassenzimmer gerannt sei. Das kann doch nicht sein. Wir neigen in der Bildungspolitik dazu, Dinge schönzureden. Man muss Klartext reden, um die Leute aufzurütteln.
Viele Ihrer Vorschläge dürften langwierige Reformen voraussetzen. Wie lässt sich die Demokratieförderung an Schulen im jetzigen Rahmen verbessern?
Der Motor für Schulentwicklung ist das Kollegium vor Ort. Je klarer sich ein Kollegium darüber unterhält, was der Kern ihrer Tätigkeit ist und je mehr Lehrpersonen darum ringen, wie sie ihre gesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen und welcher Unterricht dafür der wirksamste ist, desto größer sind die Effekte. Bei Konferenzen sollte man sich immer wieder fragen: Was bedeutet für uns guter Unterricht? Woran können wir diesen erkennen? Wie können wir diesen sichtbar machen? Und was können wir tun, damit unsere Lernenden noch besser werden?
Bei Besuchen an Schulen habe ich festgestellt, dass über diese so selbstverständlich klingenden Fragen nur selten diskutiert wurde. Gerade der nachwachsenden Generation von Lehrpersonen sollte vermittelt werden, welch wichtige Rolle sie für die Gesellschaft haben. Ihre Kernaufgabe ist es, mündige Staatsbürger für eine starke Demokratie hervorzubringen. Je klarer Schulleitungen ihre Führungsrolle wahrnehmen, desto wirksamer sind Veränderungsprozesse. Auch hier gibt es in der Fläche großen Nachholbedarf – aber ebenso auch die Leuchttürme in der Schullandschaft: Kollegien, die sich immer wieder neu erfinden, Schulleitungen, die nicht nur verwalten, sondern gestalten. Von diesen zu lernen und ihre Expertise in andere Schulen zu tragen, ist gerade für eine Demokratiebildung wichtig.
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