Wie sieht eine fortschrittliche Bildungspolitik aus? Wo muss die Politik, wo die Wirtschaft ansetzen? Mit diesen Fragen hat sich das Fortschrittsforum der Friedrich-Ebert-Stiftung in den letzten Monaten befasst und hat ihre Ergebnisse vorgestellt.
Der Veranstaltungssaal der Ebert-Stiftung in der Hiroshimastraße ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Hochschullehrer sitzt neben der Hausfrau, eine Zwanzigjährige neben einem Siebzigjährigen – Das Thema Bildung interessiert
„Heute zählt nur noch, was man selbst schafft. Abschlüsse, Zertifikate und Titel – in einem Wort: Karriere!“, beginnt der Erziehungswissenschaftler und Vertreter des Fortschrittsforums Bildung und Modernisierung Faruk Tuncer. „Menschen werden in unserer Gesellschaft allein gelassen. Dieser Zustand ist nicht weiter tragbar.“ Die Bürgerinnen und Bürger im Publikum –egal ob jung oder alt- nicken zustimmend. Deshalb würde es ein neues Wir in der Gesellschaft brauchen, erklärt Tuncer. „Eine mitgestaltende und demokratische Gesellschaft, die niemanden zurücklässt und mehr an die Gemeinschaft denkt.“
„Wir brauchen ein Bildungssystem, das gerecht ist“
Das Bildungssystem müsse gerecht sein. Es müsse leisten, dass alle Bürger frei und selbst bestimmt leben können und es dürfe niemanden ausgrenzen, egal aus welcher Altersgruppe, sozialen Verhältnissen oder Herkunftsland dieser Mensch kommt. In der Realität sieht das Ganze leider anders aus.
Laut Studien würde die Leistung der deutschen Schüler zwar besser, dennoch blieben 20 Prozent bis zum Abschluss auf der Strecke. Für rund ein Fünftel der Schüler bedeute das langfristig Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Um diese Problematik grundlegend in den Griff zu bekommen, müsse bereits im Kindergarten angesetzt werden, fordert Tuncer. „primary first“ nennt er diese Idee. Was das bedeutet, erklärt Tuncer so: „Kitas müssen als Bildungseinrichtung wahrgenommen und voll anerkannt werden. Das heißt, wir müssen den Beruf des Erziehers akademisieren und besser bezahlen.“
Einen weiteren Knackpunkt sieht der Erziehungswissenschaftler in den Übergängen zwischen den einzelnen Stationen im Bildungssystem, beispielsweise der Wechsel vom Kindergarten in die Grundschulen. „Wir brauchen eine Steuergruppe aus Eltern, Erziehern oder Sozialarbeitern, die als Bindeglied zwischen den einzelnen Bildungseinrichtungen dienen“, fordert Tuncer. “ Ziel sei es, dass die Kinder nicht erst neu kennengelernt werden müssen, sondern schnellstmöglich individuell gefördert werden können.
Die Qualität in den Grundschulen müsse deutlich gesteigert werden, damit sich die Schüler am Ende ihrer Grundschulzeit auf demselben Leistungsstand befinden.
Nach einem ähnlichen Konzept soll nach den Vorstellungen des Forums auch der Weg ins Studium oder in die Ausbildung erleichtert werden. Zukunftslotsen sollen die Schüler betreuen und sie über ihre Möglichkeiten aufklären. – Dies sei besonders wichtig, wenn man bedenke, dass nur 50 Prozent der Abiturientinnen und Abiturienten mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwächeren Familien studierten.
Bildung lebenslang lautet das Motto - mit der Betonung auf „lebenslang“
Zu einem gerechten Bildungssystem, das niemanden ausgrenzt, gehöre auch, sich weiterbilden zu können, meint Norbert Brüning, ebenfalls Mitglied im Forum Bildung und Modernisierung.
Besonders für Menschen mit niedrigen Einkommen würden kaum Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten. Für die Betroffenen bedeute das Arbeitslosigkeit, denn eine Weiterbildung können sie nicht aus eigener Tasche zahlen.
Mit zunehmendem Alter werde es immer schwieriger, eine neue Anstellung zu finden hat Brüning festgestellt.
„Wir leben aber in Zeiten, in der das Rentenalter auf 67 angehoben wird“, erinnert Brüning. Berufe wie Dachdecker zum Beispiel könne man nicht bis zur Rente ausüben, das ließe ganz einfach die Gesundheit nicht zu. Ein gerechtes Bildungssystem müsse daher frühzeitig eingreifen und Alternativen, zum Beispiel in Form von Weiterbildungen, bereitstellen, fordert das Fortschrittsforum.
Die Wissenschaftler schlagen einen Sondertopf vor, um Unternehmen dazu zubringen, mehr ältere Mitarbeiter einzustellen: Zu jedem investierten Euro vom Arbeitgeber soll die gleiche Summe vom Bund dazu gezahlt werden, so die Idee.
Mehr Gemeinschaft und soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft und im Bildungssystem wünscht sich auch Katja Urbatsch, Gründerin von Arbeiterkind e.V. „Arbeiterkind ist eine gemeinnützige Initiative die Schülerinnen und Schüler aus Familien, in denen noch niemand oder kaum jemand studiert hat, zum Studium ermutigt und sie dann von Beginn bis zum Abschuss unterstützt“, erklärt Urbatsch. Das Geld für Bildungsreisen, Computer und anderes Lernmaterial werde vom Bildungssystem heutzutage vorausgesetzt. Das müsse geändert werden. Genauso verhält es sich mit der elterlichen Unterstützung, kritisiert Urbatsch. „Wir dürfen alle diejenigen nicht vergessen, die das nicht haben.“
Coco-Christin Hanika absolviert im Frühjahr 2013 ein Praktikum beim vorwärts.