Wer in Deutschland Frankreich möglichst nah sein will, kann das am besten im Saarland.
Im Frühjahr 1962 kam ich zum Studium ins Saarland, um Frankreich möglichst nahe zu sein. Ich wollte mehr erfahren von diesem Land, das Dichter wie Baudelaire und Rimbaud, Schriftsteller wie Alain Fournier und Raymond Queneau, Philosophen wie Sartre und Camus und – irgendwie noch wichtiger – die Filme der nouvelle vague hervorgebracht hatte. Ich wusste damals noch nicht, dass ich hier Wurzeln schlagen würde. Das geschah fast unbemerkt, aber nachhaltig.
Saarbrücken ist Grenzstadt. Die Grenze zieht sich mitten durch die ineinanderfließenden Siedlungen. Von der Stadtmitte ist man schneller im lothringischen Spichern als in unserem Haus in der Kernstadt. Für die Saarländer gehört das benachbarte Departement Moselle mit seiner Hauptstadt Metz zum direkten Lebensumfeld. Das Gleiche gilt umgekehrt für die Lothringer.
Wohnen und arbeiten orientieren sich grenzüberschreitend an den jeweiligen Vorlieben, nicht an der staatlichen Zugehörigkeit. Die Restaurants, die Kaufhäuser, die spezialisierten Geschäfte hüben und drüben konkurrieren und ergänzen sich, das Kulturangebot ist vielfältig. Auf engstem Raum blüht eine vielfältige Gegenwart mit zwei Sprachen, mit unterschiedlichen Gesetzen, anderen Verkehrs- und Nummernschildern, mit einem bunten Gemisch von Radioprogrammen (die hastige wortreiche Moderation der Franzosen, die eher knappe und betuliche der Deutschen), mit anderen Zeitungen und anderen Schlagzeilen. Die Film- und Theaterprogramme sind im Wortsinne eigenartig. Um es offen zu sagen: Ich bin kultureller Bigamist – und ich genieße es. Ich bin dabei nicht allein. Wir leben nicht mehr an der, sondern auf der Grenze und begegnen einander real, nicht nur virtuell im Netz.
Saarbrücken war einst Garnisonsstadt, als Bollwerk gegen die „Welschen“ gerüstet. Manche Straßennamen künden noch von dieser Zeit. Heute aber ist es eine europäische Stadt, wie Saarlouis und Merzig auch. Die nationale Identität ist eine Identität unter vielen geworden, zu denen auch die regionale gehört. Am Jahrestag des Elysée-Vertrags befinden wir uns bereits auf dem Wege zu einer europäischen Region.
war von 1998 bis 1999 Ministerpräsident des Saarlandes und von 1999 bis 2000 Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen.