Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) liebt simple Bilder: "Deutschland entwickelt sich vom Sorgenkind auf dem Arbeitsmarkt zum Musterknaben" oder "Wir befinden uns auf der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung". Man muss es Brüderle schon lassen: Er hat einen ausgeprägten Sinn für plastische Darstellungen und lehnt sich weit aus dem Fenster.
Einen besonders treffenden Ratschlag hat er denn auch vom Vorsitzenden des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, erhalten: Er möge auf der Schnellstraße mit der gebotenen Vorsicht fahren. Dies ist bei der Bewertung der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wahrlich angebracht.
Geschönte Zahlen
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) sind in Deutschland immer noch 4,06 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit. Zudem können Erwerbslose, die älter als 58 Jahre sind, ihre Arbeitslosengeld-Leistungen beziehen, ohne für eine Stelle verfügbar zu sein. Sie werden daher statistisch auch nicht als Arbeitslose gezählt.
So sind zu den registrierten 2,945 Millionen Arbeitslosen 1,15 Millionen Menschen hinzuzurechnen, die statistisch nicht als arbeitslos erfasst werden, obwohl sie eine Stelle suchen. Darunter Erwerbslose in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sowie die über 300.000 Langzeitarbeitslosen in Ein-Euro-Jobs.
Langzeitarbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch
Die Langzeitarbeitslosigkeit ist im internationalen Vergleich nach wie vor überdurchschnittlich hoch. Etwa zwei Drittel der registrierten Arbeitslosen, das sind zwei Millionen Menschen, müssen Hartz-IV-Leistungen beziehen, weil ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld I wegen Langzeitarbeitslosigkeit erschöpft ist, oder die Höhe ihres ALG I nicht zum Leben reicht.
Die Zahl derjenigen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, konnte zwar seit 2005 halbiert werden, liegt aber immer noch bei 800.000. Nach wie vor gibt es große Unterschiede bei der beruflichen Eingliederung zwischen Kurz- und Langzeitarbeitslosen: Die Chancen, eine ungeförderte Beschäftigung aufzunehmen, sind für Langzeitarbeitslose viermal geringer.
Konjunkturprogramme laufen aus
Noch wirken sich die 50 Milliarden Euro aus den Konjunkturprogrammen für 2009 und 2010 positiv auf den Arbeitsmarkt aus: Die Abwrackprämie und die massive Ausweitung der Kurzarbeit in Verbindung mit der Abschmelzung der Arbeitszeitkonten in den Betrieben haben den größten Beitrag zum Erhalt von Arbeitsplätzen geleistet. Die hohen Kosten der Kurzarbeit von über 15 Milliarden Euro haben vor allem die Arbeitnehmer mit geringerer Arbeitszeit und niedrigeren Löhnen sowie als Beitrags- und Steuerzahler geleistet.
Nicht vergessen werden soll auch der Beitrag der Arbeitgeber, die trotz teilweise erheblicher Einbrüche bei Aufträgen und Umsätzen ihre Arbeitnehmer weitgehend durchgehalten haben. Die Skeptiker, die davor warnten, dass die Kurzarbeit erhebliche öffentliche Mittel verschlinge und am Ende doch zu Entlassungswellen führten, haben sich kräftig geirrt. Das vielfach geschmähte Modell der deutschen Tarifpartnerschaft und der Flächentarifverträge hat sich bewährt.
Zeit für Lohnerhöhungen
Bleibt nur zu hoffen, dass dies nicht verdrängt und vergessen wird, wenn es jetzt um die Lohnerhöhungen geht. Die Arbeitnehmer und Gewerkschaften wollen zu Recht ihren erheblichen Anteil an der Bewältigung der größten weltweiten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression und der kräftigen konjunkturellen Erholung einlösen. Dies ist auch eine wesentliche Voraussetzung für die Erholung der Binnenkonjunktur.
Die im Rahmen der Konjunkturprogramme erfolgte Förderung der öffentlichen Investitionen in den Bereichen Umwelt, Energie, Bildung und sonstiger Infrastruktur sind 2009 zunächst äußerst zögerlich angelaufen und haben dann an Fahrt gewonnen. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sind Spätindikatoren und scheinen erst in diesem Jahr davon zu profitieren. Diese Förderung der öffentlichen Beschäftigung läuft in diesem Jahr aus.
Reform von Hartz IV: Urteil des Bundesverfassungsgericht erfüllen
Darüber hinaus hat die Bundesregierung das Ruder ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik um 180 Grad gedreht: Bis 2014 sollen die öffentlichen Haushalte, die durch die gigantischen Rettungsschirme für die Finanzwirtschaft aufgebläht wurden, durch ein massives Spar- und Kürzungsprogramm konsolidiert werden. So sollen die Maastricht Kriterien bei der öffentlichen Verschuldung und die Schuldenbremse im Grundgesetz erfüllt werden. Den größten Kürzungsbeitrag - nämlich 30 von insgesamt 80 Milliarden Euro sollen die Arbeitslosen, Familien, Alleinerziehenden und Kinder erbringen.
Einen besonders bitteren Vorgeschmack erleben wir gerade bei den Vorschlägen der schwarz-gelben Regierungskoalition zu der vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Reform der Regelsätze bei der Grundsicherung für Erwachsene und Kinder: Die vom Bundeskabinett beschlossene Mini-Erhöhung der Regelsätze um 5 Euro auf 364 Euro entbehrt jeglicher transparenten und schlüssigen Begründung, wie sie vom Bundesverfassungsgericht verlangt wurde.
Das Bildungspaket in Form von Gutscheinen und/oder später Chipkarten hat zu Recht erheblichen Unmut wegen Stigmatisierung und Bürokratisierung hervorgerufen. Darüber hinaus sind 10 Euro im Monat für die etwa 1,8 Millionen Kinder aus Hartz-IV-Familien für Bildung, Sport, Kultur und Freizeit ein Tropfen auf den heißen Stein. Die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Zielsetzung, die gesellschaftliche Integration der Hartz-IV-Kinder zu verbessern, kann hierdurch kaum erreicht werden.
Finanzielle Zugeständnisse und unsoziale Kürzungen
Wenn sich unsere Wirtschaft und Beschäftigung jetzt so viel besser entwickeln, sind auch mehr Steuern und weniger öffentliche Ausgaben und Schulden zu erwarten. Dann wäre es doch ein "Leichtes", die von Schwarz-Gelb beschlossenen unsozialen Kürzungsmaßnahmen von 30 Milliarden Euro zu Lasten von Arbeitslosen, Familien, Alleinerziehenden und Kindern nicht vorzunehmen. Die Hartz-IV-Regelsätze könnten genau wie das Bildungspaket gemäß den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts aufgebessert werden.
Stattdessen müssen die Bürger mitansehen, welche ungerechtfertigten finanziellen Zugeständnisse von Schwarz-Gelb an die Hotelbranche, die Energiewirtschaft und die Atomlobby gemacht werden. Bei Hartz-IV-Empfängern dagegen wird im jeden Cent gefeilscht. Die Massenproteste um Stuttgart 21 sollte eine Warnung sein, dass auch in Deutschland die Empörung über politische Beschlüsse schnell auf die Straße getragen werden kann.
Von "Gleichbehandlung" keine Rede
Im Dunkeln bleibt zudem, ob es auch eine entsprechende Förderung für die Kinder aus einkommensschwachen Familien geben wird. Dies wäre dringend erforderlich, wenn der Grundgesetzartikel der "Gleichbehandlung" sowie die gesellschaftliche Integration und Verbesserung der Lebenschancen ernst genommen werden soll. Die vorgesehene Anrechnung des Elterngeldes auf Hartz-IV-Leistungen wird für die vielen alleinerziehenden Frauen am Rande unserer Gesellschaft und für ihre Kinder einen weiteren schweren Rückschlag bedeuten.
Die von Bundeswirtschaftsminister Brüderle beschworene "Schnellstraße zur Vollbeschäftigung" muss für viele Arbeitslose und Arbeitnehmer wie Hohn klingen. Das viel beschworene Beschäftigungswunder entpuppt sich bei näherem Hinsehen für gut ein Fünftel der Menschen in unserem Land als ein Albtraum: Niedriglöhne, befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Langzeitarbeitslosigkeit sowie Altersarmut.
Arbeitnehmer aus dem Ausland?
Trotz Konjunktur- und Beschäftigungswunder hat sich bisher wenig bei der beruflichen Eingliederung der überdurchschnittlich hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen getan. Überall sind namhafte MinisterInnen sowie Vertreter der Wirtschaft unterwegs, um für bessere Bildung und Ausbildung zu werben. In fast jeder Äußerung von Spitzenvertretern der BA und der Wissenschaft wird auf die Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und fehlenden Abschlüssen von Schule und Ausbildung verwiesen.
Die Sorge über den bereits vorhandenen und drohenden Fachkräftemangel beherrschte über Wochen die Schlagzeilen. Es werden sogar solche gewagten Schlussfolgerungen gezogen: Wir hätten über Jahre in der Bundesrepublik die falschen Fragen gestellt, indem der Mangel an Arbeit und Arbeitsplätzen in unserer globalisierten und technisierten Welt beschworen wurde. Vielmehr müssen wir umgekehrt die Frage um den Mangel an Arbeitskräften stellen. Die Antworten werden dann meist mitgeliefert: Erhöhung und Erleichterung des Zuzugs von Arbeitnehmern aus dem Ausland mit der notwendigen Qualifikation.
Kürzungen bei Arbeitsmarktpolitik zurücknehmen
Es wäre daher angebracht, auch den Teil des Kürzungspakets zu streichen, der eine Verringerung der Arbeitsmarktpolitik vorsieht. Vor allem bei der beruflichen Weiterbildung, der beruflichen Rehabilitation, sowie den Maßnahmen zur Eingliederung benachteiligter Menschen. Dazu gehört auch das Rechts den Hauptschulabschluss nachzuholen. Gerade umgekehrt muss bei diesen Maßnahmen eine Ausweitung und Verbesserung vorgenommen werden, um die Qualifikationsreserven bei den Menschen in unserem Lande zu verbessern - dazu gehören auch Arbeitnehmer und Arbeitslose mit Migrationshintergrund.
Erfreulich klingt das Lob von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, dass die Mitarbeiter in den Arbeitsagenturen und Job Centern wesentlich zu den Erfolgen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Eingliederung in Arbeit beigetragen haben. Doch wäre es an der Zeit, endlich die Agenturen und Job Center mit dem nötigen Personal in der erforderlichen Qualifizierung auszustatten.
Bei einem Anteil von über 30 Prozent befristeten Arbeitskräften in den Job Centern wundert es nicht, wenn die Eingliederungsleistungen gegenüber Langzeitarbeitslosen und die Betreuung ihrer Bedarfsgemeinschaften verbesserungsbedürftig bleiben. Um die Integration zu fördern, könnte die Bundesarbeitsministerin einen wichtigen Beitrag leisten: Für die Mitarbeiter in den Job Centern sowie die arbeitslosen Menschen wäre die Umwandlung der befristeten in unbefristete Stellen in den Job Centern das Gebot der Stunde.
Dr. Ursula Engelen-Kefer leitet den Arbeitskreis Sozialversicherung im Sozialverband Deutschland. Von 1990 bis 2006 war sie stellvertretende Vorsitzende des DGB.